Ergebnisse & Perspektiven des Marxismus

Lenin: „Liberale und Demokraten zur Sprachenfrage“ (1913)

Der folgende Artikel vom September 1913 ist entnommen aus Lenin, Werke, Bd. 19, S. 344–347.

* * *

Die Zeitungen haben des öfteren auf einen Bericht des kaukasischen Statthalters hingewiesen, der nicht im Geiste der Schwarzhunderter, sondern im Geiste eines zaghaften „Liberalismus“ gehalten ist. Der Statthalter spricht sich unter anderem gegen die künstliche Russifizierung, d.h. Verrussung der nichtrussischen Völkerschaften, aus. Im Kaukasus seien die Vertreter der nichtrussischen Völkerschaften selbst bestrebt, die Kinder Russisch lernen zu lassen, z.B. in den armenischen Kirchenschulen, in denen der russische Sprachunterricht nicht obligatorisch ist.

Unter Hinweis darauf kommt eine der in Rußland verbreitetsten liberalen Zeitungen, das „Russkoje Slowo“ (Nr. 198), zu dem berechtigten Schluß, das feindliche Verhalten zur russischen Sprache in Rußland „sei ausschließlich“ eine Folge der „künstlichen“ (es müßte heißen: gewaltsamen) Aufpfropfung der russischen Sprache.

„Um das Schicksal der russischen Sprache braucht man sich keine Sorgen zu machen. Sie selbst wird sich in ganz Rußland Anerkennung erobern“, schreibt die Zeitung. Das ist auch richtig, werden doch die Erfordernisse des Wirtschaftsverkehrs die in einem Staat lebenden Nationalitäten (solange sie zusammenleben wollen) stets veranlassen, die Sprache der Mehrheit zu erlernen. Je demokratischer die Staatsform Rußlands sein wird, desto stärker, rascher und breiter wird sich der Kapitalismus entfalten, desto nachdrücklicher werden die Erfordernisse des Wirtschaftsverkehrs die verschiedenen Nationalitäten zum Erlernen der Sprache drängen, die für die gemeinsamen Handelsbeziehungen am geeignetsten ist.

Aber die liberale Zeitung hat es eilig, sich selbst ins Gesicht zu schlagen und ihre liberale Inkonsequenz zu beweisen.

„Schwerlich wird“, schreibt sie, „selbst unter den Gegnern der Russifizierung irgend jemand bestreiten wollen, daß es in einem solchen Riesenstaat wie Rußland eine allgemeine Staatssprache geben muß und daß diese Sprache … nur die russische sein kann.“

Eine verdrehte Logik! Für die kleine Schweiz ist es kein Verlust, sondern ein Gewinn, daß sie nicht eine allgemeine Staatssprache, sondern volle drei besitzt: Deutsch, Französisch und Italienisch. In der Schweiz sind 70% der Bevölkerung Deutsche (in Rußland 43% Großrussen), 22% Franzosen (in Rußland 17% Ukrainer), 7% Italiener (in Rußland 6% Polen und 4124\frac{1}{2}% Belorussen). Wenn die Italiener in der Schweiz im gemeinsamen Parlament oft französisch sprechen, so tun sie das nicht unter der Fuchtel irgendeines barbarischen Polizeigesetzes (das gibt es in der Schweiz nicht), sondern einfach deshalb, weil zivilisierte Bürger eines demokratischen Staates selbst die Sprache vorziehen, die der Mehrheit verständlich ist. Die französische Sprache flößt den Italienern keinen Haß ein, da sie die Sprache einer freien, zivilisierten Nation ist, eine Sprache, die nicht durch widerliche Polizeimaßnahmen aufgezwungen wird.

Warum soll nun das „riesige“, viel buntscheckigere und furchtbar rückständige Rußland seine Entwicklung durch die Aufrechterhaltung eines wie immer gearteten Privilegs für eine der Sprachen hemmen? Ist es nicht umgekehrt, ihr Herren Liberalen? Sollte nicht Rußland, wenn es Europa einholen will, so bald wie möglich, so gründlich wie möglich und so entschlossen wie möglich mit allen und jeglichen Privilegien aufräumen?

Wenn jegliche Privilegien wegfallen, wenn keine der Sprachen mehr aufgezwungen wird, dann werden alle Slawen einander leicht und schnell verstehen lernen und nicht vor dem „furchtbaren“ Gedanken zurückschrecken, daß im gemeinsamen Parlament Reden in verschiedenen Sprachen zu hören sein werden. Und die Erfordernisse des Wirtschaftsverkehrs werden von selbst diejenige Sprache eines gegebenen Landes bestimmen, deren Kenntnis im Interesse der Handelsbeziehungen für die Mehrheit von Vorteil ist. Diese Bestimmung wird um so zwingender sein, als die zu verschiedenen Nationen gehörende Bevölkerung sie aus freien Stücken annehmen wird, sie wird sich um so rascher und umfassender durchsetzen, je konsequenter der Demokratismus sein und je schneller sich infolgedessen der Kapitalismus entwickeln wird.

Die Liberalen treten an die Sprachenfrage ebenso wie an alle politischen Fragen als heuchlerische Krämer heran, die die eine Hand (öffentlich) der Demokratie, die andere Hand (hinter dem Rücken) den Fronherren und Polizeigewaltigen hinstrecken. Wir sind gegen Privilegien, schreit der Liberale, hinter dem Rücken aber erschachert er von den Fronherren bald dieses, bald jenes Privileg für sich.

So ist jeder bürgerlich-liberale Nationalismus, nicht nur der großrussische (er ist wegen seines gewalttätigen Charakters und seiner Verwandtschaft mit den Herren Purischkewitsch schlimmer als jeder andere), sondern auch der polnische, jüdische, ukrainische, georgische und jeder andere. Die Bourgeoisie aller Nationen sowohl in Österreich als auch in Rußland betreibt unter der Losung der „nationalen Kultur“ in Wirklichkeit die Zersplitterung der Arbeiter, die Schwächung der Demokratie und verhökert die Volksrechte und die Volksfreiheit an die Fronherren.

Die Losung der Arbeiterdemokratie heißt nicht „nationale Kultur“, sondern internationale Kultur des Demokratismus und der Arbeiterbewegung der ganzen Welt. Mag die Bourgeoisie das Volk mit allen möglichen „positiven“ nationalen Programmen betrügen. Der klassenbewußte Arbeiter wird ihr entgegnen: Es gibt nur eine einzige Lösung der nationalen Frage (soweit ihre Lösung in der Welt des Kapitalismus, in der Welt der Profitmacherei, der Zwietracht und der Ausbeutung überhaupt möglich ist), und diese Lösung lautet: konsequenter Demokratismus.

Beweise: in Westeuropa die Schweiz, ein Land mit alter Kultur, und in Osteuropa Finnland, ein Land mit junger Kultur.

Das nationale Programm der Arbeiterdemokratie: absolut keine Privilegien für irgendeine Nation, für irgendeine Sprache; Lösung der Frage der politischen Selbstbestimmung der Nationen, d.h. ihrer staatlichen Lostrennung, auf völlig freiem, demokratischem Wege; Erlaß eines für den ganzen Staat geltenden Gesetzes, kraft dessen jede beliebige Maßnahme (der Semstwos, der Städte, der Gemeinden usw. usf.), die in irgendwelcher Hinsicht einer der Nationen ein Privileg gewährt und die Gleichberechtigung der Nationen oder die Rechte einer nationalen Minderheit verletzt, für ungesetzlich und ungültig erklärt wird – und jeder beliebige Staatsbürger berechtigt ist zu verlangen, daß eine solche Maßnahme als verfassungswidrig aufgehoben wird und diejenigen, die sie durchsetzen wollen, strafrechtlich belangt werden.

Dem nationalen Gezänk der verschiedenen bürgerlichen Parteien wegen der Sprachenfrage usw. stellt die Arbeiterdemokratie die Forderung entgegen: unbedingte Einheit und restlose Verschmelzung der Arbeiter aller Nationalitäten in allen Gewerkschafts-, Genossenschafts-, Konsum-, Bildungs- und allen anderen Arbeiterorganisationen, als Gegengewicht gegen jeden bürgerlichen Nationalismus. Nur bei einer solchen Einheit, einer solchen Verschmelzung kann die Demokratie behauptet werden, können die Interessen der Arbeiter gegen das Kapital – das bereits international ist und es immer mehr wird – behauptet, können die Interessen der Entwicklung der Menschheit zu einer neuen Lebensform, der jedes Privileg und jede Ausbeutung fremd sind, behauptet werden.

Kontakt | Impressum
x