Ergebnisse & Perspektiven des Marxismus

Der Rationalismus der Aufklärung und die Ursprünge des Marxismus: Hegels Philosophie

Die von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) entwickelte dialektische Methode gehört zu den Grundlagen des Marxismus. Der weitere Rahmen von Hegels Philosophie wird im folgenden Auszug aus dem Vortrag „Enlightenment Rationalism and the Origins of Marxism“1 von Joseph Seymour kurz vorgestellt. Der Text ist übersetzt aus der gleichnamigen Broschüre,2 die 1998 von der Spartacist League/U.S., Sektion der Internationalen Kommunistischen Liga (IKL), herausgegeben wurde.

Hegel war in jungen Jahren von der Französischen Revolution begeistert, die ihm aber unter den Jakobinern schnell zu radikal wurde. Er verehrte bis zu seinem Tod Napoleon, unter dessen namensgebend bonapartistischer Herrschaft viele Errungenschaften der Revolution rückgängig gemacht wurden. Im Kontext des absolutistischen Preußen war Hegel ein Liberaler, der die unter französischem Einfluss eingeführten Reformen vorsichtig zu verteidigen suchte.

Während Hegel auch Bürgerrechte für unterdrückte Schichten wie die Juden und Quäker einforderte, vertrat er – nicht anders als viele seiner Philosophen-Kollegen, wie Kant und Fichte – konservative und herablassende Ansichten über Frauen, denen er absprach, die gleichen geistigen Fähigkeiten wie Männer zu haben, und die er auf ein Dasein im engen Rahmen der bürgerlichen Familie beschränken wollte. Demgegenüber schrieb sein Zeitgenosse, der Frühsozialist Charles Fourier (1772–1837), an den auch Marx und Engels anknüpften, machtvoll gegen die „Erniedrigung der Frauen in der Zivilisation“3 und verstand: „Der Grad der weiblichen Emanzipation ist das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation.“4

(Weiteres zu Hegels Politik findet sich auf den Seiten 23 bis 25 der unten ausschnittweise wiedergegebenen Spartacist-Broschüre Enlightenment Rationalism and the Origins of Marxism, die außerdem noch weiter auf die Philosophie der Aufklärung als Quelle des Marxismus eingeht. Dessen Wurzeln in den radikaleren Strömungen der Französischen Revolution erläutert der 15-teilige Artikel „Marxism and the Jacobin Communist Tradition“.5)

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Hegel hat den wohlverdienten Ruf, der verworrenste, undurchschaubarste, am wenigsten verständliche von allen großen Denkern zu sein. Wesentlichen Begriffen in seinem philosophischen System – Geist, Vernunft, Wirklichkeit, Dasein – werden Bedeutungen verliehen, die sich nicht nur von unserem Verständnis dieser Begriffe stark unterscheiden, sondern auch von dem anderer deutscher Philosophen zu Hegels Lebzeiten. Nachdem Hegels Hauptwerk, Die Phänomenologie des Geistes, 1807 veröffentlicht wurde, beschwerte sich der deutsche Philosoph Schelling, ein Freund seit ihren gemeinsamen Universitätszeiten, in einem Brief bei Hegel, dass das Buch für ihn keinen Sinn ergebe. Wenn ihr also versucht habt, Hegel zu lesen, und es als hoffnungslos aufgegeben habt, dann habt ihr eine Menge Gesellschaft.

Ein anderer Grund, warum Hegel für uns schwer zu verstehen ist, hat ebenso sehr mit uns wie mit Hegel zu tun. Betrachten wir die Vorstellung von Gott und religiöse Ideen, dann haben wir intuitiv die jüdisch-christliche Tradition im Sinn. In dieser Tradition ist Gott ein allmächtiger, übernatürlicher Patriarch. Gott überreicht Moses auf dem Berg Sinai die Zehn Gebote; er zerstört Sodom und Gomorra als Strafe für die Sündigkeit ihrer Einwohner. Gott ist der große Boss, der Obermacker. Wie es bei der Mafia heißt: „il capo di tutti cappi“, der Boss aller Bosse.

Doch Hegels Gott ist nicht der große Mafioso im Himmel. Hegels konzeptueller Rahmen entsprang der antiken griechischen Philosophie. In gewissem Sinn war er der letzte der antiken griechischen Philosophen, und seine Anhänger sahen in ihm den Aristoteles der Moderne. Es ist kein Zufall, dass sich Marx als junger hegelianischer Philosoph entschloss, seine Doktorarbeit über den Vergleich zweier Schulen der antiken griechischen Philosophie zu schreiben.

In der antiken griechischen Philosophie ist die Unterscheidung zwischen dem Weltlichen und dem Göttlichen nicht die zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen, sondern zwischen dem Vergänglichen und dem Ewigen. Der menschliche Körper wird als weltlich angesehen, weil er von Verfall und Tod betroffen ist. Die Mathematik andererseits ist göttlich, weil sie ewige und unveränderliche Wahrheiten verkörpert. Die Quadratwurzel aus Vier ist immer Zwei, vom Anfang der Zeit bis an ihr Ende. Ebenso ist der Wert von Pi als Verhältnis des Umfangs eines Kreises zu seinem Durchmesser unveränderlich. Daher ist für Platon, Aristoteles und ihre Anhänger das Studium der Mathematik göttlich, nicht weil es einem Zauberkräfte verleiht, sondern weil man dadurch Wissen über das erlangt, was ewig und unveränderlich ist. Das Gleiche gilt für die Philosophie und auch für die Astronomie, weil die antiken Griechen glaubten, dass die Himmelskörper im Weltraum feststehen.

Hegels Vorstellungen wurzeln in der antiken griechischen Philosophie, insbesondere dem Neo-Platonismus, und auch in bestimmten Strömungen des christlichen Mystizismus. Ein Schlüsselelement dieser Tradition ist, dass Gott durch den Menschen existiert, durch sein Bewusstsein und seinen Glauben, nicht außerhalb oder unabhängig vom Menschen. So schrieb der mittelalterliche deutsche Mystiker Meister Eckehart: „Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge…6 wäre aber ich nicht, so wäre auch ‚Gott‘ nicht: daß Gott ‚Gott‘ ist, dafür bin ich die Ursache; wäre ich nicht, so wäre Gott nicht ‚Gott‘.“7

Für Hegel ist Gott – den er „das Absolute“ zu nennen vorzieht – kein übernatürliches Wesen, sondern ein Entstehungsprozess. Er schreibt der Göttlichkeit deshalb einen geschichtlichen Charakter zu: Es gibt einen einzigen, notwendigen Strang der Entwicklung von der ursprünglichen Erschaffung der Materie bis zur höchsten von der Philosophie erreichten Stufe des Bewusstseins. Die Natur wird als niedere Phase der Selbstentwicklung des Absoluten angesehen, während der Geist die höchste Phase ist. Hegel schreibt:

„Nun aber ist die Natur eben nicht ein Festes und Fertiges für sich, welches somit auch ohne den Geist bestehen könnte, sondern dieselbe gelangt erst im Geist zu ihrem Ziel und ihrer Wahrheit, und ebenso ist der Geist an seinem Teil nicht bloß ein abstraktes Jenseits der Natur, sondern derselbe ist wahrhaft und bewährt nur erst als Geist, insofern er die Natur als aufgehoben in sich enthält.“8

Was Hegel mit „Geist“ meint, sind jene intellektuellen Tätigkeiten – Kunst, Religion, Philosophie –, durch die der Mensch die Gesamtheit des Daseins erfasst und zu begreifen sucht.

Für Hegel bereiten niedere Stufen der menschlichen Kultur und Zivilisation den Boden für höhere Stufen, die von größerem Wissen und geistiger Reife gekennzeichnet sind. Dieser Prozess gipfelt in dem, was Hegel absolutes Wissen nennt, dem Moment, wo der Mensch den gesamten bisherigen Gang der Natur und des Geistes begreift. Das Erreichen des absoluten Wissens durch den Menschen ist für Hegel gleichzeitig das Erreichen von Gottes eigenem Selbstbewusstsein: „Gott ist nur Gott, insofern er sich selber weiß; sein Sichwissen ist ferner sein Selbstbewußtsein im Menschen und das Wissen des Menschen von Gott, das fortgeht zum Sichwissen des Menschen in Gott.“9

Hegel ist nicht nur quälend undurchsichtig, sondern gilt auch als sehr humorloser Kerl. Nun, ein Voltaire war er nicht. Dennoch scheint er einen gewissen Sinn für Humor gehabt zu haben und sogar die Fähigkeit, seine eigenen Ideen auf die leichte Schulter zu nehmen. Einmal schloss er einen Vortrag vor seinen Studierenden mit diesen Worten ab:

„Es ist eine neue Epoche in der Welt entsprungen. … Das endliche Selbstbewußtsein hat aufgehört, endliches zu sein; und dadurch andererseits das absolute Selbstbewußtsein die Wirklichkeit erhalten, der es vorher entbehrte. Es ist die ganze bisherige Weltgeschichte überhaupt…10

… Ich wünsche Ihnen, recht wohl zu leben.“11

Was sollen wir also von all dem halten? In gewissem Sinne ist Hegels Vorstellung des Geistes eine Idealisierung und Verallgemeinerung der intellektuellen und kulturellen Aktivität des Menschen. Ein Komponist mag über ein neues Musikstück nachdenken, bevor er die Noten zu Papier bringt oder das Stück auf einem Klavier spielt. Beethoven komponierte großartige Musik, als er völlig gehörlos war und sie nicht wie andere Menschen hören konnte, wenn sie mit Instrumenten gespielt wurde. Ein Dichter kann ein Gedicht in seinem Kopf verfassen, bevor er es auf Papier schreibt oder laut vorträgt. Ein Computer-Programmierer könnte ein neues Programm im Sinn haben, bevor er sich an die Tastatur setzt und es in elektrische Signale verwandelt. Bei geistigen Aktivitäten gehen Ideen und Vorstellungen oft ihren materiellen und öffentlichen Verkörperungen voraus und bestimmen sie.

Für Hegel ist der Mensch – im natürlichen, biologischen Sinn – für das Denken, was das Klavier für die Musik ist: der Mensch existiert, damit das Denken existieren kann. Für Materialisten ist es andersherum: Denken existiert, damit der Mensch existieren und überleben kann. Und seien wir diesbezüglich keine menschlichen Chauvinisten. Denken existiert auch, damit Wölfe und Katzen existieren können. Nehmen wir zum Beispiel meine Katze Bubula. Sie denkt, damit sie Vögel fangen und mir mein Mittagessen klauen kann, wenn ich nicht hingucke. Sie fängt nicht Vögel und klaut mein Mittagessen, um Betrachtungen über den Weltgeist anzustellen. Tatsächlich denkt sie überhaupt nicht viel über den Weltgeist nach, weil sie ihn weder fressen noch mit ihm spielen kann.

Hat die Geschichte ein bewusstes Ziel?

Ein moderner Schüler Hegels, J. N. Findlay, beschrieb dessen Philosophie zutreffend als teleologischen Idealismus:

„Er verwendet durchweg den aristotelischen Begriff der Teleologie oder Zweckursache, und er hält den Geist für die endgültige Form, das Ziel oder die ‚Wahrheit‘ all unserer Begriffe und der Welt… Hegels tiefgreifende Teleologie bedeutet darüber hinaus, dass weder irgendetwas in der Welt noch unser Denken irgendeine andere Bedeutung oder Funktion haben kann, außer als Bedingung für die Aktivitäten des selbstbewussten Geistes zu dienen.“12

Der teleologische Idealismus schreibt der Natur und/oder der Geschichte einen eigenen Zweck oder ein eigenes Ziel zu. Ein großer Teil menschlicher Tätigkeit, insbesondere Arbeit, ist teleologisch. Was Menschen tun und in welcher Reihenfolge sie es tun, ist oft davon bestimmt, was sie in der Zukunft erreichen wollen. Bevor ein Schreiner einen Holztisch baut, hat er auf einer Blaupause oder einer Computerfestplatte einen Plan, wie der Tisch aussehen wird. Wie der Schreiner das Holz auswählt, das Holz abmisst, das Holz sägt, das Holz behandelt, ist durch das gewünschte Endprodukt bestimmt. Wenn der Tisch einen Meter hoch sein soll, wird der Schreiner die Tischbeine auf einen Meter Länge zusägen, nicht 90 Zentimeter oder 110 Zentimeter.

Das Handeln der Menschen – ob individuell oder kollektiv – kann teleologisch sein, weil Menschen ein Bewusstsein haben, dass es ihnen ermöglicht, das, was sie in der Zukunft wollen mit dem zu verbinden, was sie in der Gegenwart und in der Zeit dazwischen tun. Natur und Geschichte haben jedoch nicht die bewusste Fähigkeit, ihre eigene Zukunft zu planen und zu bestimmen. In Die Deutsche Ideologie kritisierten Marx und Engels die teleologischen Idealisten vernichtend, für die

„die spätere Geschichte zum Zweck der früheren gemacht wird, z.B., daß der Entdeckung Amerikas der Zweck zugrunde gelegt wird, der französischen Revolution zum Durchbruch zu verhelfen, wodurch dann die Geschichte ihre aparten Zwecke erhält und eine ‚Person neben anderen Personen‘ (als da sind: ‚Selbstbewußtsein, Kritik, Einziger‘ etc.) wird, während das, was man mit den Worten ‚Bestimmung‘, ‚Zweck‘, ‚Keim‘, ‚Idee‘ der früheren Geschichte bezeichnet, weiter nichts ist als eine Abstraktion von der späteren Geschichte, eine Abstraktion von dem aktiven Einfluß, den die frühere Geschichte auf die spätere ausübt.“13

Da Marx den teleologischen Idealismus ablehnte und bekämpfte, wieso sind dann Hegels philosophische Vorstellungen ein wichtiger Bestandteil des Marxismus? Vor allem, weil Hegel der erste wichtige Denker war, der die Ansicht vertrat, dass die menschliche Natur soziale Natur war und sich daher mit dem Gang der historischen Entwicklung der Zivilisation veränderte und entwickelte. Die vorherrschende Ansicht der Aufklärung, dass menschliches Verhalten durch unveränderliche biologische Bedürfnisse und Triebe wie den Selbsterhaltungstrieb beherrscht sei, lehnte Hegel ab und bekämpfte er. Ähnlich ablehnend und gegensätzlich stand er zu der Vorstellung der Gesellschaft als einer Ansammlung von vereinzelten Individuen, deren Verhalten unabhängig von ihrer historisch gegebenen Kultur verstanden werden könnte. Folgendes ist der Kern von Hegels Kritik am Denken der Aufklärung in dieser Hinsicht:

„Wenn man sich alles hinwegdenke, was eine trübe Ahnung unter das Besondere und Vergängliche rechnen kann, als besonderen Sitten, der Geschichte, der Bildung und auch dem Staate angehörig, so bleibt der Mensch unter dem Bilde des nackten Naturzustandes oder das Abstraktum desselben mit seinen wesentlichen Möglichkeiten übrig, und man hat nur hinzusehen, um das zu finden, was notwendig ist.“14

In seinen „Thesen über Feuerbach“ – wie wir sehen werden war Feuerbach ein Rückfall in den Naturalismus der Aufklärung – bringt Marx genau das selbe Argument an: „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“15

Eine der einflussreichsten Strömungen der letzten Periode der Aufklärung war der Utilitarismus, der von dem Engländer Jeremy Bentham entwickelt wurde. Diese Lehre besagte, dass das Verhalten aller Menschen durch das Bedürfnis motiviert war, entweder Freude zu erlangen oder Schmerz zu vermeiden. Hegel hielt den Utilitarismus für eine hohle und triviale Binsenweisheit, da sich das, was für die Mitglieder einer gegebenen Kultur auf einer bestimmten Stufe der historischen Entwicklung angenehm oder schmerzhaft ist, von dem unterscheidet, was für Mitglieder einer anderen Kultur auf einer anderen Stufe der Entwicklung zutreffen würde. Grönländische Inuit und deutsche Philosophiestudenten streben gleichermaßen danach, Freude zu erlangen und Schmerz zu vermeiden. Aber Inuit würden es ziemlich schmerzvoll empfinden, Hegel zu lesen, während deutsche Philosophiestudenten wohl kaum viel Freude dabei empfinden würden, Walrossfett zu essen.

Hegel war der erste bedeutende Denker, der die Ansicht vertrat, dass die Art, wie Menschen denken und handeln in erster Linie durch ihre eigene, von ihnen geschaffene Kultur bestimmt wird, und nicht durch Naturgesetze. In einem seiner damals unveröffentlichten frühen Werke, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, schrieb Marx, „daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt…; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift“.16 Jedoch fügt er dann die wichtige Einschränkung hinzu: „Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige17 – das heißt, Kunst, Religion, Philosophie.

Das materialistische Verständnis der „Selbsterzeugung des Menschen“ wird von Marx und Engels klar und prägnant in Die deutsche Ideologie festgehalten:

„Die Geschichte ist nichts als die Aufeinanderfolge der einzelnen Generationen, von denen Jede die ihr von allen vorhergegangenen übermachten Materiale, Kapitalien, Produkionskräfte exploitiert, daher also einerseits unter ganz veränderten Umständen die überkommene Tätigkeit fortsetzt und andrerseits mit einer ganz veränderten Tätigkeit die alten Umstände modifiziert…“18

Hegel: Vernunft und Wirklichkeit

Eine zentrale Rolle in Hegels politischer Philosophie spielt die Vorstellung, dass der tatsächliche Verlauf der Geschichte durch die Selbstentwicklung des „Weltgeistes“ geregelt wird. Er schreibt, „die Verfassung eines bestimmten Volkes [hängt] überhaupt von der Weise und Bildung des Selbstbewußtseins [des Geistes] ab“.19 Während der Napoleonischen Kriege behauptete Hegel:

„Durch das Bewußtsein greift der Geist in die Herrschaft der Welt ein. Dies ist sein unendliches Werkzeug, weiter hinaus Bajonette, Kanonen, Leiber. Aber ihr Panier und die Seele ihres Feldherrn ist der Geist. Nicht Bajonette, nicht das Geld, nicht einzelne Kniffe und Pfiffe sind das Herrschende. Dies muß auch sein, wie die Uhr Räder hat, aber ihre Seele ist die Zeit und der die Materie ihrem Gesetz unterwerfende Geist.“20

Hegels berühmtester Aphorismus lautet: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“21 Das ist nicht nur uneindeutig, sondern seine zwei Teile sind auch implizit widersprüchlich. Wenn das, was vernünftig ist, wirklich ist, dann ist das, was nicht vernünftig ist, dazu vorherbestimmt, zu verschwinden. Wenn aber das, was wirklich ist, vernünftig ist, dann ist die Welt, wie sie gerade besteht, von vornherein vernünftig. Außerdem unterliegt die Weltgeschichte großen Umschwüngen. Wenn Napoleons Sieg über die preußische Armee in der Schlacht von Jena den Fortschritt der Vernunft in der Geschichte verkörperte, wie Hegel es zu der Zeit vertrat, wie konnte dann der Sieg der preußischen Armee über Napoleon sechs Jahre später in der Schlacht bei Leipzig ebenfalls den Fortschritt der Vernunft verkörpern?

Hegel betrachtete den Vormarsch der Vernunft in der Geschichte jedoch nicht so, als wäre es eine Parade der preußischen Armee, mit einem gemessenen Schritt vorwärts nach dem anderen. Er räumte ein, dass es Zeiten geben könnte, in denen die Vernunft zum Rückzug gezwungen wird, außerdem Seitwärtsbewegungen und eine ganze Menge bedeutungsloses Umherschlendern. Hier wird Hegels Begrifflichkeit sehr verwirrend, denn er unterscheidet „Wirklichkeit“ von „Dasein“.22 Wirklichkeit ist das, was der Vernunft entspricht, während Dasein lediglich das ist, was eben existiert. Hegel formuliert es so: „Alles, was nicht diese durch den Begriff selbstgesetzte Wirklichkeit ist, ist vorübergehendes Dasein, äußerliche Zufälligkeit, Meinung, wesenlose Erscheinung, Unwahrheit, Täuschung usf.“23

Da ich diese Schulung ursprünglich in Chicago geben sollte, wo einige der älteren Genossen gerne Basketball spielen, dachte ich mir, ich benutze Basketball, um den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Dasein im Hegelschen Sinn zu erklären. Stellt euch vor, ihr spielt, der Ball wird ins Aus befördert und von einem zwölfjährigen Jungen aufgehoben. Er will spielen. Er macht seine Michael-Jordon-Nachahmung. Er täuscht links an, er täuscht rechts an, er läuft zum Korb. Wenn Hegel das sähe, würde er sagen: „Das ist kein echter Basketballspieler, sondern nur die wesenlose Erscheinung eines Basketballspielers.“ Aber stellen wir uns vor, der Junge trifft ein paar weite Sprungwürfe. Dann würdet ihr sagen: „Hey, der Junge hat’s wirklich drauf. Lasst ihn spielen.“

Das ist also das Problem. Woher weiß man, was wirklich wirklich ist, und was bloß da ist? Woher weiß man bei einem Krieg zwischen zwei großen Staaten, welche Seite die fortschrittliche Entwicklung des Weltgeistes verkörpert, und welche ein totes Überbleibsel der Vergangenheit ist? Hegel zieht sich mit der berühmtesten Metapher der philosophischen Literatur aus der Affäre:

„Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, daß erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, in Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“24

Minerva ist die antike römische Göttin der Weisheit, und die Eule war ihr Symbol. Was Hegel also sagt, ist, dass der Fortschritt der Vernunft in der Welt nur im Nachhinein beurteilt werden kann.

Dieser politische Standpunkt, den Hegel in den 1820ern einnahm, war nur möglich, weil das eine Periode reaktionärer Stabilisierung in ganz Europa war. Es gab keine großen Kriege, keine Revolutionen, keine ernsthafte Gefahr von Revolution. In Deutschland gab es nicht einmal irgendwelche bedeutenden sozialen oder politischen Auseinandersetzungen. Minerva konnte also in Ruhe und Gelassenheit über die Vergangenheit sinnieren.

Nehmen wir aber mal an, dass 1825 eine Volksrevolution in Frankreich die Bourbonen-Monarchie gestürzt hätte und das revolutionäre Frankreich danach gegen Preußen in den Krieg gezogen wäre. Der Chef der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität hätte kaum sagen können: „Ich bin neutral. Ich werde auf das Ergebnis warten, eine Weile darüber nachdenken und dann feststellen, welche der Kriegsparteien den Weltgeist verkörperte.“ Hegels über den Dingen stehende politische Haltung war außer auf historisch kurze Frist nicht haltbar. Daher spalteten sich seine Anhänger nach seinem Tod 1831 innerhalb eines Jahrzehnts in zunehmend feindliche Fraktionen auf.


  1. „Der Rationalismus der Aufklärung und die Ursprünge des Marxismus“.

  2. S. 25–29.

  3. Zitiert in: Annegret Stopczyk, Muse, Mutter, Megäre – Was Philosophen über Frauen denken, Aufbau Taschenbuch Verlag, 1997, S. 126.

  4. Siehe „Frauen und die Französische Revolution“, Spartacist, dt. Ausg. Nr. 22, Sommer 2001.

  5. Young Spartacus Nr. 40, 41, 43, 45, 46 (dieser Teil geht auf Marx’ und Engels’ Entwicklung von linken Hegelianern zu proletarischen Revolutionären ein), 48, 49, 50, 57, 59, 61, 64, 65, 69 und 70, erschienen von Februar 1976 bis Februar 1979.

  6. Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, Diogenes, 1979, S. 216.

  7. a.a.O., S. 308.

  8. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in Werke, Bd. 8, Suhrkamp, 1986, S. 204.

  9. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in Werke, Bd. 10, S. 374.

  10. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in Werke, Bd. 20, S. 460.

  11. a.a.O., S. 462.

  12. Hegel: A Re-Examination, Routledge 1958/2013, S. 23 – unsere Übersetzung, E&P.

  13. Marx/Engels, Werke, Bd. 3, S. 45.

  14. Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften, in Werke, Bd. 2, S. 445.

  15. Marx/Engels, Werke, Bd. 3, S. 5.

  16. Marx/Engels, Werke, Bd. 40, S. 574.

  17. ebd.

  18. Marx/Engels, Werke, Bd. 3, S. 45.

  19. Grundlinien der Philosophie des Rechts, in Werke, Bd. 7, S. 440. [Seymour zitiert Hegel auf Englisch so: „A people has the constitution which corresponds to the consciousness which the world spirit realizes in that people.“ Dieses Zitat war in englischsprachigen Fassungen von Hegels Werken nicht auffindbar, sondern nur als Zitat ohne Quellenangabe in Studies on Marx and Hegel von Jean Hyppolite, Harper, 1973, S. 122. Die oben im Text zitierte Stelle lautet auf Englisch: „[T]he constitution of a specific nation will in general depend on the nature and development of its self-consciousness“ (Elements of the Philosophy of Right, Cambridge University Press, 1991, S. 312) – E&P.]

  20. Werke, Bd. 2, S. 560f.

  21. Grundlinien der Philosophie des Rechts, in Werke, Bd. 7, S. 24.

  22. Die englischen Wörter sind „reality“ und „existence“.

  23. Grundlinien der Philosophie des Rechts, in Werke, Bd. 7, S. 29.

  24. a.a.O., S. 27f.

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