8. März 2022 – Von der erdrückend ungleichen Belastung durch Haus- und Sorgearbeit, über allgegenwärtige Diskriminierung, sexuelle Gewalt innerhalb und außerhalb der Familie bis zu weiterhin ungleicher Bezahlung („Equal Pay Day“ war in Deutschland erst gestern) – der Kampf gegen Frauenunterdrückung ist aktuell wie eh und je. Der folgende Artikel geht historisch auf die Frage ein, welches das richtige politische Programm ist, um der Frauenunterdrückung ein Ende zu machen. Er ist übersetzt aus Workers Vanguard,1 Zeitung der Spartacist League/U.S., Sektion der Internationalen Kommunistischen Liga (IKL). Der Artikel erschien zuerst in Women and Revolution,2 1973 bis 1996 herausgegeben von der Kommission für Arbeit unter Frauen des ZK der SL/U.S.
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Entgegen einer in gewissen Kreisen immer noch vertretenen Meinung ist der moderne Feminismus nicht voll entwickelt aus dem fruchtbaren Schoß der Neuen Linken [der 1960er – E&P] geboren worden, sondern er ist in Wirklichkeit ein ideologischer Abkömmling des utopischen Egalitarismus3 des frühen 19. Jahrhunderts. Es ist bemerkenswert, dass der maßgebliche Theoretiker des utopischen Sozialismus, Charles Fourier, auch der erste Verfechter von Frauenbefreiung durch die Ersetzung der Kernfamilie durch kollektive Kindererziehung war. Da der utopische Sozialismus (einschließlich seiner Lösung für das Problem der Frauenunterdrückung) die Ideale der bürgerlich-demokratischen Revolution unter Durchbrechung der Schranken des Privateigentums vertrat, war er historisch fortschrittlich. Mit der Entstehung des Marxismus und der Erkenntnis, dass eine egalitäre Gesellschaft nur aus der Herrschaft der Arbeiterklasse hervorgehen kann, verlor der Feminismus (wie auch andere Formen des utopischen Egalitarismus) jedoch seinen fortschrittlichen Charakter und wurde zu einer Ideologie des linken Flügels des liberalen Individualismus – eine Position, die er auch heute noch einnimmt.
Das wichtigste bürgerlich-demokratische Werk zur Frauenbefreiung war zweifellos Mary Wollstonecrafts Eine Verteidigung der Rechte der Frau4 aus dem Jahr 1792. Wollstonecraft gehörte zu einem Kreis englischer Radikaldemokraten wie William Blake, Tom Paine und William Godwin, deren politisches Leben von der Französischen Revolution bestimmt wurde. Ein Jahr, bevor sie ihren Klassiker über die Gleichberechtigung der Geschlechter schrieb, verfasste Wollstonecraft das Buch Verteidigung der Menschenrechte,5 eine Polemik gegen die konterrevolutionären Schriften von Edmund Burke. Einige Jahre später sollte sie sich an einer Geschichte der Französischen Revolution versuchen.
Obwohl das Buch durch ihre eigenen Erfahrungen als unverheiratete Frau aus der Mittelschicht (sie arbeitete als Lehrerin und Gouvernante) geprägt und von moralischer Empörung durchdrungen ist, ist Verteidigung im Wesentlichen eine Ausweitung der Grundsätze der Aufklärung und der Französischen Revolution auf Frauen. Das erste Kapitel mit dem Titel „Betrachtung der Rechte und der damit verbundenen Pflichten der Menschheit“6 gibt den theoretischen Rahmen vor. Verteidigung stützt sich stark auf Analogien zwischen der Grundlage für die Gleichheit der Frauen und der allgemeinen sozialen Gleichheit.
Für heutige Leser mutet Verteidigung wie ein höchst unausgewogenes Werk an. Während die Beschreibung der Rolle der Frau nach wie vor aktuell ist, erscheinen Wollstonecrafts Lösungen blass. Ihre wichtigste programmatische Forderung, der sie das abschließende Kapitel widmet, ist eine einheitliche Erziehung für Mädchen und Jungen. Selbst als sie Verteidigung schrieb, war dies nur ein mäßig radikaler Vorschlag. Tatsächlich wurde im selben Jahr, in dem Verteidigung geschrieben wurde, ein ähnliches Bildungsprogramm in der französischen Nationalversammlung vorgeschlagen. Doch auch Generationen nach der Einführung der gemeinsamen Erziehung und der noch radikaleren Reform, der Einführung des Frauenwahlrechts, hat Wollstonecrafts Darstellung der Rolle der Frau in der Gesellschaft nach wie vor Gültigkeit.
Obwohl Wollstonecraft eine der radikalsten politischen Aktivistinnen ihrer Zeit war (kurz nachdem sie ihren Klassiker über die Rechte der Frau geschrieben hatte, überquerte sie den Ärmelkanal, um sich an der französischen Revolutionsregierung zu beteiligen), hat Verteidigung einen ungeahnt moralisierenden und personalistischen Charakter. Wie viele Feministinnen unserer Tage appelliert sie an die Männer, die volle Menschlichkeit der Frauen anzuerkennen, und an die Frauen, nicht länger Sexobjekte zu sein und sich selbst zu entwickeln. Und es herrscht die gleiche Überzeugung, dass die Frauen die Gleichberechtigung erreichen würden, wenn Männer und Frauen nur wirklich an diese Ideale glauben und sich entsprechend verhalten würden.
Die Betonung individueller Beziehungen ist keine Besonderheit von Wollstonecraft, sondern ergibt sich aus dem inhärenten Widerspruch innerhalb der bürgerlich-demokratischen Auseinandersetzung mit der Unterdrückung der Frau. Wollstonecraft akzeptierte die Kernfamilie als zentrale Institution der Gesellschaft und plädierte für die sexuelle Gleichberechtigung innerhalb dieses Rahmens.
Indem Wollstonecraft die grundlegende Rolle der Frau als Mutter akzeptierte, akzeptierte sie eine Arbeitsteilung, bei der die Frau zwangsläufig wirtschaftlich von ihrem Mann abhängig war. Die Gleichberechtigung der Frauen hing daher im Wesentlichen davon ab, wie die Ehepartner sich gegenseitig behandelten. Verteidigung ist zu einem guten Teil eine Argumentation dafür, dass Eltern und insbesondere Väter ihre Töchter mehr wie ihre Söhne erziehen sollten, um ihr wahres Potenzial zur Geltung zu bringen. Aber wenn Väter die Erziehung ihrer Töchter ablehnen, gibt es keine weiteren Möglichkeiten. Hier zeigen sich die Grenzen sowohl der bürgerlichen Demokratie als auch von Wollstonecrafts Vision.
Die Stellung der Frau im 19. Jahrhundert war der schärfste und deutlichste Ausdruck des Widerspruchs zwischen der kapitalistischen Gesellschaft und ihren eigenen Idealen. Dieser Widerspruch brachte den utopischen Sozialismus hervor. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wurde denjenigen, die noch den Idealen der Französischen Revolution verpflichtet waren, klar, dass Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht mit dem Privateigentum in einer wettbewerbsorientierten Marktwirtschaft vereinbar waren. Wie der scharfsinnigste der frühen Sozialisten, Charles Fourier, es ausdrückte:
„Die Philosophie hatte Recht, nach der Freiheit zu schauen; sie ist das vornehmste Streben aller Kreaturen. Aber die Philosophie hat vergessen, dass die Freiheit in der Zivilisation eine Illusion bleibt, wenn es den einfachen Leuten an Vermögen fehlt. Wenn die Klasse der Lohnarbeiter arm ist, so ist ihre Unabhängigkeit so fragil wie ein Haus ohne Fundament. Der freie Mann, dem es an Wohlstand mangelt, fällt erneut unter das Joch des Reichen.“7
Und als Fourier dieselben kritischen Konzepte auf die Stellung der Frau anwandte, gelangte er zu den gleichen radikalen, anti-bürgerlichen Schlussfolgerungen. Die Bedeutung, die Fourier der Situation der Frauen beimaß, ist allgemein bekannt:
„Der soziale Fortschritt und der Übergang von einer Periode zur anderen erfolgt auf Grund der Fortschritte in der Befreiung der Frau, und der Niedergang der Gesellschaftsordnung wird durch die Abnahme der Freiheit für die Frau bewirkt. …
Zusammenfassung: die Erweiterung der Privilegien der Frauen ist die allgemeine Grundlage allen sozialen Fortschritts.“8
Von entscheidender Bedeutung für Fouriers Auseinandersetzung mit der Unterdrückung der Frau ist, dass er ein Programm für eine vollkommene Neugestaltung der Gesellschaft vorlegte, die die historische Teilung der Arbeit zwischen Männern und Frauen beenden würde. In der von Fourier geplanten sozialistischen Gemeinschaft würden die Kinder gemeinsam erzogen, ohne besondere Beziehung zu ihren biologischen Eltern, Männer und Frauen verrichteten dieselbe Arbeit und völlige sexuelle Freiheit würde propagiert. (Er betrachtete die heterosexuelle Monogamie als Ausweitung bürgerlichen Eigentumsvorstellungen auf die Sexualität.)
Fouriers intensive Feindseligkeit gegenüber der patriarchalischen Familie rührte zu einem guten Teil von seiner Erkenntnis her, dass sie von Natur aus sexuell repressiv ist. Darin nahm er einen Großteil des radikalen Freudianismus vorweg. Beispielsweise beobachtete er: „Immer noch gibt es viele Eltern, die ihre Töchter lieber verschmachten oder sterben lassen, als ihnen die ersehnte Befriedigung zu gewähren.“9
Trotz der fantastischen Natur seiner geplanten sozialistischen Gemeinschaften oder „Phalangen“10 enthielt Fouriers Programm einen rationalen Kern für die zur Befreiuung der Frauen erforderliche Umgestaltung der Gesellschaft. Er war in besonderer Weise dafür verantwortlich, dass die Forderung nach der Befreiung der Frau durch die Abschaffung der Kernfamilie zu einem festen Bestandteil des sozialistischen Programms wurde, das die jungen Marx und Engels übernommen hatten. Engels war mehr als bereit (z. B. in Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft11), dem Hauptautor des sozialistischen Programms zur Befreiung der Frau die Ehre zu erweisen.
Die beiden anderen großen Strömungen des Sozialismus des frühen 19. Jahrhunderts, der Owenismus und der Saint-Simonismus, setzten sich ebenfalls eindeutig für die Gleichberechtigung der Geschlechter und gegen die gesetzlich erzwungene Monogamie ein, auch wenn sie der Frauenfrage nicht die zentrale Bedeutung beimaßen, die sie im Fourierismus hatte. Das politische Leben des frühen 19. Jahrhunderts war durch die vollständige Verflechtung des Kampfes für die Befreiung der Frau mit dem allgemeinen Kampf für eine egalitäre Gesellschaft gekennzeichnet. Die Frauen, die für Frauenrechte eintraten (nicht weniger als die Männer, die dies taten), betrachteten diese Frage nicht als von der allgemeinen Bewegung für eine rationale Gesellschaftsordnung getrennt, geschweige denn als Gegenpol dazu. Die Frauen, die sich für die sexuelle Gleichberechtigung einsetzten, waren entweder Sozialistinnen oder Radikaldemokratinnen, deren Engagement für die Rechte der Frau nur einen Bruchteil ihres politischen Lebens ausmachte. Die radikalsten Verfechterinnen der sexuellen Gleichberechtigung – die US-Amerikanerinnen Frances Wright und Margaret Fuller und die Französin Flora Tristan – entsprechen alle diesem politischen Profil.
Frances Wright begann ihre politische Karriere als liberale Reformerin mit einer Abhandlung für die Abschaffung der Sklaverei. Sie wurde von Robert Dale Owen, dem Sohn von Robert Owen, für den Sozialismus gewonnen, der in die USA einwanderte und dort in den 1820–30er Jahren deren bedeutendster radikaler Sozialist wurde. Wright gründete in Tennessee eine owenistische Kommune nach dem Vorbild der berühmten Kommune in New Harmony, Indiana. In den Jahren 1828–29 gaben sie und Robert Dale Owen den Free Enquirer heraus, eine Zeitung, die mit der New Yorker Workingman’s Party verbunden war und sich für das allgemeine Wahlrecht, freie öffentliche Bildung, „freie Liebe“ und Geburtenkontrolle einsetzte.
Margaret Fuller, deren Werk Women in the Nineteenth Century12 das einflussreichste Werk über Frauenrechte ihrer Generation war, war ein Produkt des Transzendentalismus in Neuengland und hatte zusammen mit Ralph Waldo Emerson eine Zeitschrift herausgegeben. Wie Wollstonecraft ging auch Margaret Fuller die Frauenfrage vom Standpunkt des religiösen Radikalismus (die Gleichheit der Seelen) aus an.
Fuller schloss sich der transzendentalistischen Kommune Brook Farm an, etwa zu der Zeit, als diese in eine fourieristische Kommune oder „Phalanx“ umgewandelt wurde, ein Jahr bevor sie ihren Klassiker über die Gleichberechtigung der Frau schrieb. Kurz darauf reiste sie nach Europa und engagierte sich in den demokratisch-nationalistischen Bewegungen, die eine Triebfeder der Revolutionen von 1848 waren. In jenem bedeutsamen Jahr ging sie nach Italien, um ein Krankenhaus für die Bewegung Junges Italien von Giuseppe Mazzini zu leiten.
Die bedeutendste Sozialistin der Zeit vor 1848 war Flora Tristan. Sie begann ihre revolutionäre Karriere mit einer Abhandlung, in der sie sich für die Legalisierung der Scheidung aussprach, die in Frankreich nach der Reaktion von 1815 verboten worden war. (Als junge Frau hatte sich Tristan von ihrem Mann getrennt, was ihr zeitlebens soziale Ächtung und ständige Not einbrachte.) Ihre Arbeit über die Scheidung führte zu einem Briefwechsel mit dem alternden Fourier und zu ihrem Eintreten für den Sozialismus. Tristan, die zu den kosmopolitischsten Sozialisten gehörte, hatte den Ärmelkanal überquert und spielte eine aktive Rolle sowohl in der Owenisten- als auch in der Chartistenbewegung. In einem Brief an Victor Considerant, den Führer der Fourier-Bewegung nach dem Tod des Meisters, fasst sie ihre politische Situation zusammen: „Fast die ganze Welt ist gegen mich, die Männer, weil ich die Emanzipation der Frauen fordere, die besitzenden Klassen, weil ich die Emanzipation der Lohnarbeiter fordere.“13
In den 1840er Jahren wandelten sich die alten französischen Handwerksverbände, die Compagnons, in moderne Gewerkschaften um. Dieser Prozess führte zur Entstehung einer revolutionären sozialistischen Arbeiterbewegung, deren wichtigste Führer Pierre Joseph Proudhon, Auguste Blanqui und Etienne Cabet waren. Flora Tristan war Teil dieser im Entstehen begriffenen proletarisch-sozialistischen Bewegung. Ihre 1843 verfasste Schrift Arbeiterunion14 war die bis dahin fortschrittlichste Erklärung des proletarischen Sozialismus. Ihr Hauptanliegen war die Notwendigkeit einer internationalen Arbeiterorganisation. (Marx lernte Tristan während seines Aufenthalts in Paris kennen und wurde zweifellos von ihrem Werk beeinflusst.) Die abschließende Passage von Arbeiterunion bekräftigt: „Gewerkschaft ist Macht, wenn wir uns auf sozialem und politischem Gebiet vereinigen, auf dem Boden der Gleichberechtigung beider Geschlechter, wenn wir die Arbeiterschaft organisieren, werden wir Wohlstand für alle gewinnen.“15
Die Arbeiterunion widmet den Problemen der Frauen einen eigenen Abschnitt und die Schlusspassage zeigt, welche Rolle die Gleichberechtigung der Geschlechter in Tristans Konzept des Sozialismus spielte: „… wir haben uns entschlossen, in einer feierlichen Erklärung ihre [der Frauen] heiligen und unverbrüchlichen Rechte, die in unsere Charta aufgenommen sind, darzulegen. Wir möchten, … daß die Männer in den Frauen und ihren Müttern die Freiheit und Gleichheit respektieren, deren sie sich selbst erfreuen.“16
Flora Tristan starb 1844 im Alter von 41 Jahren an Typhus. Hätte sie die Katastrophe von 1848 überlebt und wäre sie politisch aktiv geblieben, wäre die Geschichte des europäischen Sozialismus vielleicht anders verlaufen, denn sie war frei von den jakobinischen Überbleibseln eines Blanqui und dem handwerklichen Philistertum eines Proudhon.
Heutige Feminist_innen und bürgerliche Historiker_innen neigen dazu, alle Verfechter_innen der sexuellen Gleichberechtigung aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert als Feminist_innen zu bezeichnen. Das ist eine völlig unzulässige Analyse – eine Projektion aktueller Kategorien auf eine Zeit, in der sie bedeutungslos sind. Der Feminismus als eigenständige Bewegung und besondere Ideologie existierte im frühen neunzehnten Jahrhundert nicht. Praktisch alle Verfechter der vollen sexuellen Gleichberechtigung betrachteten diese als integralen Bestandteil der Bewegung für eine allgemein freie und egalitäre Gesellschaft, die in den Grundsätzen der Aufklärung wurzelte und die Amerikanische und insbesondere die Französische Revolution fortführte. Die US-amerikanische Owenistin Frances Wright war ebenso wenig eine Feministin wie der englische Owenist William Thompson, der die Schrift Appell der Frauen17 verfasste. Flora Tristan war ebenso wenig eine Feministin wie Fourier.
In den 1840er Jahren konnten sich eine radikale Transzendentalistin wie Margaret Fuller, ein nationalistischer Demokrat wie Giuseppe Mazzini und ein sozialistischer Arbeiterorganisator wie Etienne Cabet als Teil einer gemeinsamen politischen Bewegung betrachten, deren Programm sich in dem Slogan „Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit“ zusammenfasste. In ihrer radikalsten Ausprägung strebte diese Bewegung eine einzige, totale Revolution an, die gleichzeitig die Demokratie einführen, die Klassen beseitigen, die Gleichberechtigung der Frauen erreichen und die nationale Unterdrückung beenden sollte.
Diese Vision wurde 1848 auf den Barrikaden besiegt. Und mit dieser Niederlage trennten sich die Bestandteile des Radikalismus des frühen 19. Jahrhunderts (liberale Demokratie und Sozialismus, Gewerkschaftsbewegung, Gleichberechtigung der Frau und nationale Befreiung) und begannen miteinander zu konkurrieren und in Konflikt zu geraten. Nach 1848 schien es, dass die bürgerliche Gesellschaft noch einige Zeit fortbestehen würde und dass die Interessen der Unterdrückten, seien es Arbeiter, Frauen oder Nationen, innerhalb ihres Rahmens verwirklicht werden müssten. Der Feminismus entstand erst (wie auch die Gewerkschaftsbewegung und die nationale Befreiung) als eine abgegrenzte Bewegung mit einer eigenen Anhängerschaft, Ideologie und Organisation, nachdem die große Katastrophe von 1848 die Vision einer grundlegend neuen Gesellschaftsordnung vorübergehend vertrieben hatte.
Manchmal wird geschrieben, dass Fourier den Sozialismus eher als Mittel zur Überwindung der Frauenunterdrückung denn der Klassenunterdrückung ansah. Dies ist eine postmarxsche Sichtweise der Politik und nicht die, die Fourier gehabt hätte. Er hätte gesagt, dass er sich eine Gesellschaft vorstellte, die die menschlichen Bedürfnisse befriedigen würde, und dass das Herausragendste an ihr die radikale Veränderung der Rolle der Frau sei. Im Gegensatz zu der materialistischen Auffassung, dass unterschiedliche politische Bewegungen die Interessen unterschiedlicher Klassen repräsentieren, teilte der utopische Sozialismus die für die Aufklärung charakteristische rational-idealistische Auffassung von der politischen Motivation, d. h., dass unterschiedliche politische Bewegungen unterschiedliche Vorstellungen von der bestmöglichen sozialen Organisation widerspiegeln. Der Idealismus des Frühsozialismus war wahrscheinlich unvermeidlich, da er von jenen revolutionären bürgerlichen Demokraten hervorgebracht wurde, die an ihren Prinzipien festhielten, nachdem die eigentliche Bourgeoisie die revolutionäre Demokratie aufgegeben hatte. Die soziale Basis des Frühsozialismus waren jene kleinbürgerlichen Radikalen, die über die Interessen und realen historischen Möglichkeiten ihrer Klasse hinausgegangen waren. Dies galt vor allem für den deutschen „wahren Sozialismus“,18 der in einer Nation ohne Industriearbeiter und mit einem konservativen, traditionalistischen Kleinbürgertum eine rein literarische Bewegung war. Am wenigsten traf es auf den englischen Owenismus zu, der sich mit der entstehenden Arbeiterbewegung überschnitt und gleichzeitig ein starkes Element des liberalen Philanthropismus bewahrte.
In den 1840er Jahren war in Frankreich, Belgien und England eine Arbeiterbewegung entstanden, die sich von sozialistischen Ideen und Organisationen angezogen fühlte. Das Verhältnis der neu entstandenen sozialistischen Arbeiterorganisationen zu den älteren sozialistischen Strömungen sowie zur liberalen Demokratie und den politischen Ausdrucksformen der Frauenrechte und der nationalen Befreiung blieb jedoch in allen bestehenden sozialistischen Theorien verworren. Es war Marx, der den gordischen Knoten durchschlug und eine kohärente, realistische Analyse der sozialen Grundlage für die sozialistische Bewegung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft lieferte.
Marx vertrat die Ansicht, dass die Arbeiterklasse die soziale Gruppe sei, die bei der Errichtung des Sozialismus die vorrangige und herausragende Rolle spielen würde. Dies war so, weil die Arbeiterklasse diejenige soziale Gruppe war, deren Interessen und Bedingungen am ehesten mit einer kollektivistischen Wirtschaft in Einklang standen oder umgekehrt, die das geringste Interesse an der kapitalistischen Produktionsweise hatte.
Marx’ Anerkennung der Rolle des Proletariats ergab sich nicht aus der deutschen Philosophie, sondern war das Ergebnis seiner Erfahrungen im Frankreich der 1840er Jahre. Der Sozialismus hatte die französische Gesellschaft deutlich entlang der Klassenlinien polarisiert: Die Hauptbasis für den Sozialismus war die industrielle Arbeiterklasse, die besitzenden Klassen waren unerbittlich feindselig und das Kleinbürgertum schwankte und suchte oft einen utopischen dritten Weg.
Für Marx war die Vorherrschaft der Intellektuellen in der frühsozialistischen Bewegung kein Beweis dafür, dass sich die sozialistische Bewegung auf eine universelle Vernunft stützen konnte. Vielmehr war das notwendigerweise ein Phänomen, das zum Teil die Widersprüche der bürgerlich-demokratischen Revolution widerspiegelte und zum Teil die neue Ausrichtung der Klassenkräfte vorwegnahm: Ein „Teil der Bourgeoisie [geht] zum Proletariat über, und namentlich ein Teil dieser Bourgeoisideologen, welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben.“19
Die besitzenden, gebildeten Klassen konnten nicht auf der Grundlage von rationalen und demokratischen Idealen für den Sozialismus gewonnen werden, obwohl diese Ideale objektiv nur im Sozialismus verwirklicht werden können. Ebenso können die Frauen der privilegierten Klasse und die herrschende Schicht der unterdrückten Nationalitäten in der Regel nicht für den Sozialismus gewonnen werden, auch wenn die Gleichberechtigung der Geschlechter und die nationale Befreiung objektiv nur im Sozialismus verwirklicht werden können.
Eng verbunden mit der Frage nach der Klassenbasis der sozialistischen Bewegung ist die Frage nach den materiellen Bedingungen, unter denen der Sozialismus verwirklicht werden kann. Als Engels in seinen späten Jahren über den vormarxistischen Sozialismus nachdachte, witzelte er, dass die Utopisten glaubten, der Sozialismus sei deshalb noch nicht errichtet worden, weil noch niemand daran gedacht habe. Dass Engels’ Scherz nur eine leichte Übertreibung war, zeigt die Bedeutung von Kommune-Experimenten in der frühsozialistischen Bewegung, die auf die Überzeugung hinweisen, dass der Sozialismus unter allen Bedingungen eingeführt werden kann, wenn eine Gruppe ihn nur wirklich will. Der Vorrang des Voluntarismus für die Frühsozialisten spiegelt wiederum die Tatsache wider, dass ihr Denken im individualistischen Idealismus des 18. Jahrhunderts verwurzelt war, der wiederum aus dem Protestantismus, einer früheren bürgerlichen Ideologie, stammte.
In scharfem und bewusstem Gegensatz zu den Utopisten vertrat Marx die Auffassung, dass Ungleichheit und Unterdrückung notwendige Folgen des wirtschaftlichen Mangels sind und dass Versuche, sie durch Flucht in die Kommune oder politischen Zwang zu beseitigen, zum Scheitern verurteilt sind:
„… diese Entwicklung der Produktivkräfte (womit zugleich schon die in weltgeschichtlichem, statt der in lokalem Dasein der Menschen vorhandne empirische Existenz gegeben ist) [ist] auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müßte…“20
Marx’ Feststellung, dass Ungleichheit und Unterdrückung historisch notwendig sind und nur durch die Gesamtentwicklung der Gesellschaft überwunden werden können, in deren Mittelpunkt die Hebung der Produktivkräfte steht, stellt seinen grundlegendsten Bruch mit fortschrittlicher bürgerlicher Ideologie dar. Daher sind diese Konzepte bis heute die unangenehmsten Aspekte des Marxismus für diejenigen, die sich von einer liberal-humanistischen Einstellung her zum Sozialismus hingezogen fühlen. So fasst Marx zusammen, dass:
„… diese Entwicklung der Fähigkeiten der Gattung Mensch, obgleich sie sich zunächst auf Kosten der Mehrzahl der Menschenindividuen und ganzer Menschenklassen macht, schließlich diesen Antagonismus durchbricht und zusammenfällt mit der Entwicklung des einzelnen Individuums, daß also die höhere Entwicklung der Individualität nur durch einen historischen Prozeß erkauft wird, worin die Individuen geopfert werden…“21
Marx und Engels betonen, „daß es nicht möglich ist, eine wirkliche Befreiung anders als in der wirklichen Welt & mit wirklichen Mitteln durchzusetzen, daß man die Sklaverei nicht aufheben kann ohne die Dampfmaschine & die Mule-Jenny, die Leibeigenschaft nicht ohne verbesserten Ackerbau, daß man überhaupt die Menschen nicht befreien kann, solange sie nicht im Stande sind, sich Essen & Trinken, Wohnung & Kleidung in vollständiger Qualität & Quantität zu verschaffen. Die ‚Befreiung‘ ist eine geschichtliche That, keine Gedankenthat, & sie wird bewirkt durch geschichtliche Verhältnisse, durch den Stand der Industrie, des Handels, des Ackerbaus, des Verkehrs…“22
Es liegt auf der Hand, dass anstelle von „Individuen“ und „Klassen“ in diesen Passagen „Frauen“ stehen kann, ohne dass dies dem Sinn zuwider läuft, denn Marx betrachtete die Unterdrückung der Frau als einen notwendigen Aspekt der mit der Klassengesellschaft verbundenen Stufe der menschlichen Entwicklung.
Marx’ programmatische Differenzen mit den Utopisten wurden in dem Konzept der „Diktatur des Proletariats“ zusammengefasst, das er als einen seiner wenigen eigenständigen, wichtigen Beiträge zur sozialistischen Theorie betrachtete. Die Diktatur des Proletariats ist die Zeit nach dem Sturz des kapitalistischen Staates, in der die Arbeiterklasse die Gesellschaft verwaltet, um die wirtschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen für den Sozialismus zu schaffen.
Während der Diktatur des Proletariats bleibt die Restauration des Kapitalismus eine Möglichkeit. Dies ist nicht in erster Linie auf die Machenschaften eingefleischter Reaktionäre zurückzuführen, sondern ergibt sich vielmehr aus den Konflikten und Spannungen, die durch das Fortbestehen des weltweiten wirtschaftlichen Mangels entstehen.
Dieser wirtschaftliche Mangel wird nicht nur durch unzureichende materielle Produktionsmittel verursacht. Noch wichtiger ist, dass er aus dem unzureichenden und extrem ungleichen kulturellen Niveau resultiert, das vom Kapitalismus geerbt wurde. Sozialistischer Überfluss setzt eine enorme Anhebung des kulturellen Niveaus der Menschheit voraus. Der „durchschnittliche“ Mensch im Sozialismus würde über das Wissen und die Fähigkeiten mehrerer studierter Berufe der heutigen Gesellschaft verfügen.
In der Zeit unmittelbar nach der Revolution wird sich die Verwaltung der Produktion jedoch notwendigerweise weitgehend auf die in der bürgerlichen Gesellschaft ausgebildete Elite beschränken, da die Ausbildung ihrer Nachfolger Zeit in Anspruch nehmen wird. Daher werden qualifizierte Fachleute wie die Direktorin eines Flughafens, der Chefarzt eines Krankenhauses oder der Leiter eines Kernkraftwerks aus den gebildeten, privilegierten Schichten der alten kapitalistischen Gesellschaft kommen müssen. Auch in der Diktatur des Proletariats wird es, wenn auch in qualitativ abgeschwächter Form, weiterhin wirtschaftliche Ungleichheit, eine hierarchische Arbeitsteilung und jene Aspekte sozialer Unterdrückung geben, die in dem kulturellen Niveau verwurzelt sind, das aus der bürgerlichen Gesellschaft ererbt wurde (z. B. werden rassistische Einstellungen nicht am Tag nach der Revolution verschwinden).
Diese allgemeinen Grundsätze zur Diktatur des Proletariats gelten auch für die Frauenfrage. In dem Maße, in dem sie auf dem vom Kapitalismus ererbten kulturellen Niveau beruht, werden bestimmte Aspekte der sexuellen Ungleichheit und Unterdrückung auch in der Diktatur des Proletariats fortbestehen. Die Bevölkerung kann nicht vollständig umerzogen werden, noch kann ein psychologisches Muster, das Männern und Frauen von Kindheit an eingeimpft wurde, vollständig beseitigt oder umgekehrt werden.
Die Ablehnung der Diktatur des Proletariats als notwendige Übergangsperiode zum Sozialismus ist die zentrale Rechtfertigung für utopischen Egalitarismus (einschließlich des radikalen oder „sozialistischen“ Feminismus) in der Ära des Marxismus.
Der Feminismus war eine der drei großen Erweiterungen des utopischen Egalitarismus in der Zeit nach 1848, die beiden anderen waren der Anarchismus und der handwerkliche Kooperativismus (Proudhonismus). Tatsächlich haben sich während des späten neunzehnten Jahrhunderts Feminismus und Anarchismus sowohl in ihrer Position zur Frauenfrage als auch in personeller Hinsicht gegenseitig stark durchdrungen. Das entscheidende gemeinsame Element von Feminismus, Anarchismus und Kooperativismus war ein Eintreten für ein Maß an sozialer Gleichheit und individueller Freiheit, das weder unter dem Kapitalismus noch in der Periode nach seinem Sturz erreichbar war. Auf einer allgemeinen ideologischen Ebene war der Feminismus ein bürgerlicher Individualismus, der mit den Realitäten und Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft in Konflikt geriet.
Zu ihren Lebzeiten hatten Marx und Engels zwei nennenswerte Konflikte mit dem organisierten Feminismus – ständige Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dem Kampf um die Gesetzgebung zum Arbeitsschutz und einen kurzen Fraktionskampf in der US-amerikanischen Sektion der Ersten Internationale. Während die Frage der Arbeitsschutzgesetzgebung ein weites Spektrum auf vielen Ebenen der Konkretheit abdeckte, war der zentrale Unterschied zwischen Marxisten und Feministen in dieser Frage auch der zentrale Unterschied zwischen Marxismus und utopischem Egalitarismus – nämlich die Frage des Vorrangs des materiellen Wohlstands der Massen und der historischen Interessen der sozialistischen Bewegung gegenüber der formalen Gleichheit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft.
Der feministische Widerstand gegen die Arbeitsschutzgesetzgebung argumentierte und argumentiert weiterhin, dass sie eine gesetzliche Ungleichheit in der Stellung der Frau bedeuten würde und dass sie teilweise durch paternalistische, männlich-chauvinistische Vorurteile motiviert sei. Marx und Engels erkannten diese Tatsachen an, behaupteten aber, dass das physische Wohlbefinden der arbeitenden Frauen und die Interessen der ganzen Klasse an einer Verringerung der Intensität der Ausbeutung diese formale und ideologische Ungleichheit mehr als ausgleichen. In einem Brief an Gertrud Guillaume-Schack, einer deutschen Feministin und späteren Anarchistin, legt Engels seinen Standpunkt dar:
„Daß die arbeitende Frau infolge ihrer besondern physiologischen Funktionen besondern Schutz gegen kapitalistische Ausbeutung bedarf, scheint mir klar. Die englischen Vorkämpferinnen des formellen Rechts der Frauen, sich ebenso gründlich von den Kapitalisten ausbeuten zu lassen wie die Männer, sind auch großenteils direkt oder indirekt bei der kapitalistischen Ausbeutung beider Geschlechter interessiert. Mich, ich gestehe es, interessiert die Gesundheit der kommenden Generation mehr als die absolute formelle Gleichberechtigung der Geschlechter während der letzten Lebensjahre der kapitalistischen Produktionsweise. Eine wirkliche Gleichberechtigung von Frau und Mann kann nach meiner Überzeugung erst eine Wahrheit werden, wenn die Ausbeutung beider durch das Kapital beseitigt und die private Hausarbeit in eine öffentliche Industrie verwandelt ist.“23
So erkannte Engels im Feminismus das falsche Bewusstsein der privilegierten Klassen von Frauen, die, da sie selbst nur als Frauen unterdrückt werden, glauben, dass die sexuelle Ungleichheit die einzige bedeutsame Form der Unterdrückung ist.
Guillaume-Schacks Übertritt zum Anarchismus war nicht zufällig, denn auch die Anarchisten lehnten die Gesetzgebung zum Arbeitsschutz für Frauen als inkonsequente, ungerechte Reform ab. In einer Polemik, die Marx in den frühen 1870er Jahren gegen die italienischen Anarchisten schrieb, verspottete er die „Logik“, man sollte „sich nicht bemühen, das gesetzliche Verbot der Fabrikarbeit von Mädchen unter zehn Jahren zu erreichen, denn durch dieses Mittel wird noch nicht die Ausbeutung der Knaben unter zehn Jahren aufgehoben“24 – denn damit gingen sie einen „Kompromiß ein, und das verstößt gegen die Reinheit der ewigen Prinzipien!“25
Da die Erste Internationale ein Sammelbecken war, musste die marxistische Strömung große interne Fraktionskämpfe gegen die charakteristischsten linken Strömungen in den verschiedenen Ländern führen (z. B. den Gewerkschaftsreformismus in Großbritannien, den Kooperativismus von Proudhon in Frankreich, den Staatssozialismus von Lasalle in Deutschland und den Anarchismus in Ost- und Südeuropa). Es ist daher höchst symptomatisch, dass sich der wichtigste Fraktionskampf innerhalb der US-amerikanischen Sektion um den Feminismus drehte, eine Variante des kleinbürgerlichen Radikalismus. Ganz allgemein spiegelte die Bedeutung der Woodhull-Strömung das im Vergleich zu den europäischen Klassenverhältnissen größere politische Gewicht der US-amerikanischen liberalen Mittelschicht gegenüber dem Proletariat wider. Historisch gesehen war der kleinbürgerliche Moralismus im US-amerikanischen Sozialismus einflussreicher als in praktisch jedem anderen Land. Besonders ausgeprägt war dies in der Zeit nach dem Bürgerkrieg, als der Abolitionismus als Vorbild für den einheimischen US-amerikanischen Radikalismus diente.
Die relative politische Rückständigkeit der US-amerikanischen Arbeiterklasse ist in erster Linie auf den Prozess ihrer Entwicklung durch aufeinanderfolgende Einwanderungswellen aus verschiedenen Ländern zurückzuführen. Dies führte zu so starken ethnischen Spaltungen, dass selbst eine elementare gewerkschaftliche Organisierung erschwert wurde. Darüber hinaus waren viele der eingewanderten Arbeiter, die aus bäuerlichen Verhältnissen stammten, mit starken religiösen, rassischen und sexuellen Vorurteilen und einem allgemein niedrigen kulturellen Niveau behaftet, was ein Klassenbewusstsein – geschweige denn ein sozialistisches Bewusstsein – beeinträchtigte. Im Allgemeinen wurde die Unzufriedenheit der US-amerikanischen Arbeiter von der Kleinbourgeoisie der verschiedenen ethnischen Gruppen in den Kampf um ihren eigenen Platz im parlamentarischen Staatsapparat kanalisiert.
Das Fehlen einer starken Organisation der US-amerikanischen Arbeiterklasse, ihre ethnisch geprägte Wahlpolitik und ihre relativ rückständigen sozialen Einstellungen schufen ein politisches Klima, in dem der „aufgeklärte Mittelschichts-Sozialismus“ nur gedeihen konnte. In dieser Hinsicht war nicht zuletzt die Tatsache von Bedeutung, dass die liberale Mittelschicht protestantisch war, während die industrielle Arbeiterklasse überwiegend römisch-katholisch war. Ein wichtiger Aspekt des Konflikts zwischen Woodhull und Sorge war die Orientierung auf die irischen katholischen Arbeiter.
Victoria Woodhull war die bekannteste (oder besser gesagt berüchtigte) Verfechterin der „freien Liebe“ ihrer Zeit, ehrgeizig und mit einer Begabung für politische Effekthascherei. Sie erkannte, dass die Erste Internationale in Mode kam, und organisierte ihre eigene Sektion (Sektion 12) zusammen mit Resten der New Democracy, einer bürgerlichen, wahlreformerischen Organisation, die von Samuel Foot Andrews, einem ehemaligen Abolitionisten, geleitet wurde. Die Woodhull-Anhänger traten der Ersten Internationale als radikal-liberale Fraktion bei, die sich für die Rechte der Frauen einsetzte und eine auf Wahlen ausgerichtete Strategie verfolgte.
Die Sektion 12 übersetzte die Grundsätze der Ersten Internationale rasch wieder in die Sprache der US-amerikanischen liberalen Demokratie. Es versteht sich von selbst, dass sie sich für einen totalen organisatorischen Föderalismus aussprach, wobei es jeder Sektion freistehen sollte, ihre eigenen Aktivitäten und ihre eigene Linie im Rahmen der allgemeinen Prinzipien der Internationale zu verfolgen. Die politische Linie und die organisatorischen Aktivitäten der Sektion 12 (ihre offizielle Zeitung, Woodhull and Claflin’s Weekly, predigte unter anderem Spiritualismus) brachten sie schnell in Konflikt mit der marxistischen Strömung, die von dem deutschen Veteranen der Revolution von 1848, Friedrich Sorge, angeführt wurde. Die Sektion 12 war in der Lage, nicht nur in den USA, sondern auch im Ausland viel Unruhe zu stiften, weil ihr radikaler Liberalismus die wachsenden anarchistischen, wahlrechtsreformistischen und föderalistischen Strömungen in der Internationale begünstigte. Die Woodhull-Anhänger waren Teil eines verrotteten Blocks, der sich 1871–72 gegen die marxistische Führung der Ersten Internationale formierte. Woodhull genoss 1873 einen kurzen Aufenthalt in der anarchistischen Internationale und wurde danach eine wohlhabende Exzentrikerin.
Die unmittelbare Frage des Fraktionskampfes war der Vorrang der Frauenrechte, insbesondere des Wahlrechts, vor den Angelegenheiten der Arbeiter, insbesondere dem Achtstundentag. Dass es den Woodhull-Anhängern dabei nicht um programmatische Schwerpunkte ging, sondern um eine Positionierung gegen den proletarischen Sozialismus, wurde nach dem Bruch mit Sorge deutlich: „Die Ausdehnung des gleichen Bürgerrechts auf die Frauen muß in der ganzen Welt vorhergehen jeder allgemeinen Veränderung im Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit …“26
Nachdem sie sich vom Sorge-Flügel abgespalten hatte, während sie weiterhin ihre Loyalität zur Ersten Internationale beteuerte, organisierte die Sektion 12 die Equal Rights Party, um Woodhull 1872 als Präsidentschaftskandidatin aufzustellen. Das Programm war ein reiner Linksliberalismus ohne jede proletarische Ausrichtung. Es forderte … eine wahrhaft republikanische Regierung, die gleiche politische und soziale Rechte für Männer und Frauen nicht nur anerkennt, sondern auch garantiert, und die gleiche Bildungschancen für alle Kinder gewährleistet“.27
Die allgemeinen politischen Grundsätze der Woodhull-Anhänger kamen in ihrem Einspruch an den Generalrat der Ersten Internationale gegen den Sorge-Flügel klar zum Ausdruck:
„Es [das Endziel der Internationale] schließt ein: zuerst die politische Gleichheit und soziale Freiheit beider Geschlechter. … Soziale Freiheit bedeutet vollständige Sicherstellung vor aller und jeder ungehörigen Einmischung in alle Angelegenheiten rein persönlicher Natur, als z. B. religiöse Überzeugung, das Geschlechts-Verhältnis, Kleidertracht usw.“28
Dieser Aufruf wurde mit einer von Marx verfassten Resolution beantwortet, die die Sektion 12 suspendierte. Nach einer Auflistung der organisatorischen Missstände und der verkommenen Politik bekräftigte Marx abschließend den zentralen Unterschied zwischen demokratischem Egalitarismus und proletarischem Sozialismus – nämlich, dass das Ende aller Formen der Unterdrückung nur durch den Sieg der Arbeiterklasse über den Kapitalismus erfolgen kann. Marx wies auf frühere Dokumente der Internationale hin:
„mit Bezug auf ‚sektiererische Sektionen‘ oder ‚gesonderte Körper‘, welche vorgeben, ‚eigne besondere Sendungen und Aufgaben zu erfüllen‘, unterschieden und getrennt von dem gemeinsamen Ziele der Assoziation, nämlich: ‚den Mann der Arbeit von der wirtschaftlichen Unterwerfung unter den Monopolisten (Aneigner) der Arbeitsmittel zu befreien‘, welche (Unterwerfung) ‚der Knechtschaft in jeder Form, allem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Erniedrigung und der politischen Abhängigkeit zugrunde liegt‘.“29
Während sich die marxistische Argumentation gegen die Woodhull-Anhänger auf ihr Wahlverhalten, ihre bürgerliche Orientierung und ihre Quacksalberei konzentrierte, hatte die Rolle der „freien Liebe“ in der sozialistischen Bewegung durchaus eine Bedeutung in diesem Kampf. Obwohl die Marxisten die persönliche sexuelle Freiheit in ihr Programm aufnahmen, bestanden sie auf einer vorsichtigen Herangehensweise an diese Frage, wenn es um die rückständigeren Teile der Arbeiterklasse ging. Durch die Zurschaustellung eines sexuell „befreiten“ Lebensstils hätten die Woodhull-Anhänger eine nahezu undurchdringliche Barriere für die Gewinnung konventioneller und religiöser Arbeiter geschaffen. Einer der Hauptvorwürfe, die Sorge auf der Haager Konferenz 1872 gegen die Sektion 12 erhob, lautete, dass ihre Aktivitäten es der Internationale sehr viel schwerer gemacht hätten, die strategisch günstig aufgestellten irisch-katholischen Arbeiter zu erreichen.
Die historische Relevanz des Fraktionskampfes zwischen Woodhull und Sorge besteht darin, dass er in ziemlich reiner Form die Grundlage des Feminismus in den klassischen bürgerlich-demokratischen Prinzipien, insbesondere dem Individualismus, demonstrierte. Er zeigte auch, dass feministische Strömungen dazu neigen, im liberalen Reformismus oder im anarchistischen kleinbürgerlichen Radikalismus aufzugehen, die sich beide immer gegen den revolutionären proletarischen Sozialismus verbünden.
Nr. 5, Frühjahr 1974.↩
Auf soziale Gleichheit abzielende politische/philosophische Richtung. Von „egalitär“ = auf soziale Gleichheit ausgerichtet – E&P.↩
Dt. Ausg.: Verlag für die Frau, Leipzig, 1989. Neuere Ausgabe: Zur Verteidigung der Frauenrechte, ein-FACH-verlag, Aachen, 2008. Originaltitel: A Vindication of the Rights of Woman.↩
In: Haufe-Schriftenreihe zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, Bd. 8, Rudolf Haufe Verlag, Freiburg im Breisgau/Berlin, 1996. Originaltitel: A Vindication of the Rights of Man.↩
Ausg. ein-FACH-verlag, Aachen, 2008, S. 29.↩
In: Der Philosoph der Kleinanzeige, semele verlag, Berlin, 2006, S. 94f.↩
In: Die Frühsozialisten, 1789–1848, Rowohlt, Hamburg, 1970, Bd. 1, S. 180. Hervorhebung im Original.↩
In: Die Freiheit in der Liebe, Edition Nautilus, Hamburg, 2017, S. 41.↩
Siehe z. B. Fourier, Über das weltweite soziale Chaos – Ausgewählte Schriften zur Philosophie und Gesellschaftstheorie, Akademie Verlag, Berlin, 2012, S. 63. Häufiger ist die Einzahl, „Phalanx“ – siehe z. B. Fourier, Ökonomisch-philosophische Schriften – Eine Textauswahl, Akademie-Verlag, Berlin, 1980, S. 16 – E&P.↩
Marx/Engels, Werke, Bd. 19, S. 177ff.↩
Zu Deutsch: „Frauen im neunzehnten Jahrhundert“.↩
Goldsmith, Seven Women Against the World.↩
Dt. Ausg.: isp-Verlag, Frankfurt/Main, 1988. Originaltitel: The Workers Union.↩
Diese Passage konnte in der deutschsprachigen Ausgabe (s.o.) nicht gefunden werden, und wurde daher von uns aus dem Artikel übersetzt. Sie ist auch nicht in einer zugänglichen englischsprachigen Ausgabe (University of Illinois Press, Urbana/Chicago/London, 1983) enthalten – E&P.↩
Flora Tristan, Arbeiterunion, isp-Verlag, Frankfurt/Main, 1988, S. 131.↩
Dt. Ausg.: ein-FACH-verlag, Aachen, 2021. Originaltitel: An appeal of one half the Human Race, Women, against the pretensions of the other Half, Men, to keep them in Civil and Domestic Slavery, zu Deutsch: „Ein Appell der einen Hälfte der Menschheit, der Frauen, gegen die Anmaßungen der anderen Hälfte, der Männer, sie in ziviler und häuslicher Sklaverei zu halten“.↩
Siehe Die deutsche Ideologie, Marx/Engels, Werke, Bd. 3, S. 441ff.↩
Manifest der Kommunistischen Partei, in Marx/Engels, Werke, Bd. 4, S. 471f.↩
Marx/Engels, Werke, Bd. 3, S. 34f (Hervorhebung im Original).↩
Marx, Theorien über den Mehrwert, in Marx/Engels, Werke, Bd. 26.2, S. 111↩
Nach Marx/Engels, Gesamtausgabe (MEGA), Bd. I/5 (Text), Walter de Gruyter, Berlin/Boston, 2017, S. 16. Dieser Abschnitt ist in der englischsprachigen Ausgabe in Collected Works, Bd. 5, S. 38 enthalten, nicht aber in der üblichen deutschen Ausgabe des Textes in Werke, Bd. 3, S. 42.↩
Brief von Engels an Gertrud Guillaume-Schack, um den 5. Juli 1885, in Marx/Engels, Werke, Bd. 36, S. 341.↩
Marx, „Der politische Indifferentismus“, in Marx/Engels, Werke, Bd. 18, S. 299.↩
Woodhull and Claflin’s Weekly, 18. November 1871 [zitiert nach Friedrich Engels, „Die Internationale in Amerika “, in Marx/Engels, Werke, Bd. 18, S. 99 – E&P]. Hervorhebung im Original.↩
Woodhull and Claflin’s Weekly, 20. April 1872.↩
Hervorhebung im Original. [Zitiert nach Friedrich Engels, „Die Internationale in Amerika“, in Marx/Engels, Werke, Bd. 18, S. 98 – E&P.]↩
„Beschlüsse des Generalrats über die Spaltung in der Föderation der Vereinigten Staaten, angenommen in seinen Sitzungen vom 5. und 12. März 1872“, in Marx/Engels, Werke, Bd. 18, S. 54.↩