Ergebnisse & Perspektiven des Marxismus

Zur Verteidigung der Französischen Revolution – Vom Jakobinismus zum Bolschewismus

Der folgende Artikel von 1989 ist übersetzt aus Workers Vanguard,1 Zeitung der Spartacist League/U.S., Sektion der Internationalen Kommunistischen Liga (IKL).

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Die Große Französische Revolution von 1789 ist kein isoliertes und weit entferntes historisches Ereignis, sondern bildet seit 200 Jahren den Rahmen für soziale Kämpfe in Frankreich. 1848 versuchten die Arbeiter, das Bündnis zu brechen, das aus der konterrevolutionären Reaktion auf die Französische Revolution hervorgegangen war. Als Antwort darauf massakrierten die besitzenden Klassen das Pariser Proletariat in den Junitagen.

Dieselben konterrevolutionären Kräfte schossen 1871 die Kommunarden nieder und versuchten, den jüdischen Offizier Dreyfus zu verurteilen, was um die Jahrhundertwende fast zu einem Bürgerkrieg in Frankreich führte. Und da die Herrschenden durch die enormen Verluste des Ersten Weltkriegs demoralisiert waren, sahen sie angesichts des Generalstreiks von 1936 und der Wahl der Volksfront die Kapitulation vor dem deutschen Imperialismus im Jahr 1940 als „kleineres Übel“ an.

Die Fragen der Französischen Revolution – mit den Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung und den Kämpfen im Laufe von 200 Jahren – sind im heutigen Frankreich noch immer lebendig, insbesondere in der Denkweise und den Aktivitäten der französischen Reaktion. Ihre Herabwürdigung und Abwertung der Revolution dient den gleichen unmittelbaren Zwecken wie die ihrer Vorfahren, wobei vielleicht die eingewanderten Arbeitskräfte das Ziel der Bestrebungen sind, eine moderne Version der Leibeigenschaft einzuführen.

Die Behauptung revisionistischer Historiker, die Französische Revolution sei für die moderne Welt irrelevant, ähnelt in ihrer Absicht der Aussage des reaktionären US-amerikanischen Zionisten Norman Podhoretz, für ihn sei der US-amerikanische Bürgerkrieg so weit entfernt wie der englische Rosenkrieg. Was sie meinen, ist ziemlich genau das Gegenteil. Indem sie versuchen, das Gespenst vergangener sozialer Revolutionen zu vertreiben, sind sie bestrebt, die soziale und rassische Unterdrückung in der heutigen bürgerlichen Welt zu rechtfertigen und zu verschleiern.

Das Folgende ist eine überarbeitete Rede anlässlich des zweihundertsten Jahrestages der Französischen Revolution, die Joseph Seymour, Mitglied des Zentralkomitees der Spartacist League/U.S., am 22. Juli in Paris hielt.

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Es mag sehr anmaßend erscheinen, wenn ein Amerikaner, der Französisch weder spricht noch liest, einen Vortrag über die Französische Revolution hält. Doch in einem wichtigen Sinne wird die wahre Größe der Französischen Revolution mehr außerhalb als innerhalb Frankreichs empfunden – denn innerhalb Frankreichs trägt die Revolution die Trikolore, außerhalb Frankreichs trägt sie immer noch die rote Fahne. In Frankreich wird sie als Geburtsstunde des französischen bürgerlichen Nationalstaates gefeiert, als Erinnerung an die Einheit und Größe des französischen Volkes, an den Triumph der liberalen Prinzipien der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Außerhalb Frankreichs wird die Revolution jedoch immer noch als Aufstand der Unterdrückten und Ausgebeuteten für eine gerechte und egalitäre Gesellschaft angesehen, als Rache der Habenichtse an den Besitzenden.

In Frankreich ist der Jahrestag des Sturms auf die Bastille2 nur ein patriotischer Feiertag wie der 4. Juli in den USA, mit Militärparaden, Marschkapellen, Feuerwerk und all dem Fahnenschwenken. Aber stellt euch vor, ihr würdet den Tag der Bastille in El Salvador, in Bolivien oder in Pinochets Chile feiern – oder eben in den Vereinigten Staaten. Letztes Wochenende haben die Genossinnen und Genossen in New York den Tag der Bastille im Prospect Park gefeiert, und ich kann mir vorstellen, dass wir in eine schwarze Bar in Brooklyn gehen und einige Schwarze einladen, sich uns anzuschließen. Vielleicht haben sie noch nie etwas vom Tag der Bastille gehört, also würden sie sagen: Was hat es mit der Bastille auf sich? Und ich würde sagen: Vor zweihundert Jahren stürmte ein Haufen armer Arbeiter wie ihr diese Gefängnisfestung, befreite die Gefangenen, nahm die Waffen und hängte den Kommandanten auf. Und sie würden sagen: Genau, Mann, das müssen wir hier auch machen!

Es mag für ein französisches Publikum heute überraschend oder sogar erstaunlich sein zu erfahren, dass 50 Jahre nach dem Sturm auf die Bastille die Französische Revolution als Inspiration für den internationalen Kommunismus gefeiert wurde, und sie wurde ausschließlich als Inspiration für den internationalen Kommunismus gefeiert. Eine der ersten Schriften, die Friedrich Engels als Kommunist verfasste, war ein Bericht über eine Feier zur Gründung der französischen Republik, die von Kommunisten und anderen Radikalen der Arbeiterklasse in London veranstaltet wurde. Der Hauptredner war Julian Harney, der Führer der Chartisten – der ersten Massenarbeiterpartei der Geschichte. Harney sagte, wann immer wir englischen Arbeiter vom Parlament demokratische Reformen fordern, wann immer wir niedrigere Steuern verlangen, wann immer wir eine bessere Bildung für unsere Kinder fordern, schreit uns die herrschende Klasse entgegen: Jakobiner! Die Schreckensherrschaft! Ihr wollt eine Guillotine auf dem Trafalgar Square aufstellen! Ihr wollt Königin Victoria hinrichten! Leider haben sie das nicht getan.

Erst später, und nur in Frankreich, wurde die Französische Revolution als die Geburt der französischen bürgerlichen Nation gefeiert. Aber es ist wichtig zu verstehen, dass der Chauvinismus eines Clemenceau, eines Thorez, eines De Gaulle und eines Mitterrand3 nicht der Patriotismus von Robespierre und Saint-Just war. Die jakobinischen Führer versuchten, den französischen Patriotismus, das Nationalgefühl, auf die universellen Prinzipien der Aufklärung zu gründen. So sprach Robespierre Anfang 1794:

„Bloß in der Democratie ist der Staat wirklich das Vaterland aller Individuen, aus denen er besteht; er kann daher eben so viele Vertheidiger, die in seiner Sache interessirt sind, zählen, als er Bürger enthält; dieß ist die Quelle der Ueberlegenheit der freyen Völker gegen alle andere. Hierin liegt auch der Grund, warum Athen und Sparta über die Tyrannen Asiens, und die Schweizer über Spaniens und Oesterreichs gesiegt haben; aber die Franzosen sind das erste Volk in der Welt, welches die wahre Democratie eingeführt hat, indem es allen Menschen die Gleichheit, und den völligen Genuß der Rechte eines Staatsbürgers gestattet; und dieses ist, nach meiner Meinung, der wahre Grund, warum alle gegen die Republik verbündeten Tyrannen besiegt werden müssen.“4

Die jakobinische Verfassung von 1793 gewährte allen ausländischen Freiheitsfreunden, die dies wünschten, die französische Staatsbürgerschaft, und im Jakobinerkonvent gab es ausländische Radikale, die die französische „patrie“5 vertraten. Robespierre erklärte: „Die Menschen aller Länder sind Brüder und die verschiedenen Völker müssen sich, so wie die Bürger eines und desselben Staates, nach Kräften helfen.“6

Was wir heute, im Zeitalter des Imperialismus, Nationalismus nennen, ist nicht die Ideologie der Französischen Revolution. Vielmehr ist es die Ideologie der Reaktion gegen die Französische Revolution. Es war der englische Konservative Edmund Burke, der Hauptideologe der europäischen Koalition gegen die Französische Revolution, der bestimmte nationale Traditionen zum höchsten politischen Wert erhob. Es war Burke, der Engländer und Franzosen so behandelte, als seien sie fast verschiedene Spezies, die nicht in der Lage seien, ein gemeinsames politisches Vokabular und gemeinsame politische Werte zu teilen.

Es waren die deutschen romantischen Reaktionäre gegen die Französische Revolution, die die mystische Einheit des deutschen Volkes verherrlichten, die auf die alten germanischen Wälder zurückgehe. Im 20. Jahrhundert übernahmen die Nazis diesen ganzen Blut-und-Boden-Mist. Die Nazis nannten das die Blu-Bo-Literatur – Blut und Boden. Die Jakobiner sprachen nicht von Blut und Boden, sie sprachen von Demokratie und Gleichheit.

Die jakobinische Ideologie hatte einen bürgerlichen und nationalen Bestandteil und einen egalitären und universalistischen Bestandteil. Nach dem Sturz Robespierres trennten sich diese beiden Bestandteile und entwickelten sich in unterschiedliche historische Richtungen. In gewisser Weise wurden diese Richtungen durch den Korsen Napoleon Bonaparte und den Italiener Filippo Buonarroti verkörpert.

Sowohl Napoleon als auch Buonarroti begannen ihre politische Laufbahn im politischen Umfeld von Robespierre. Napoleon war ursprünglich ein Schützling von Robespierres jüngerem Bruder. Buonarroti spielte Klavier bei den Abendessen in Robespierres Haushalt. Es ist, als hätte Robespierre zwei Söhne gehabt, die sein Erbe unter sich aufgeteilt haben. Zunächst sah es so aus, als ob Napoleon das echte Erbe und Buonarroti das illusorische Erbe erhalten hätte. Napoleons Armeen eroberten ganz Europa, Buonarroti blieb es überlassen, eine Handvoll Anhänger in Geheimgesellschaften zu organisieren. Als Napoleon besiegt wurde und ins Exil ging, behauptete er in seinen Memoiren übrigens, dass er immer ein echter Jakobiner gewesen sei – dass er nur gekämpft habe, um die Völker Europas von den Dynastien zu befreien. Natürlich hat er das nie gesagt, als er Kaiser war.

Aber am Ende erwiesen sich die universalistischen und egalitären Prinzipien der Französischen Revolution als noch mächtiger als Napoleons Armeen. Buonarroti war das lebendige Bindeglied zwischen der Französischen Revolution und Karl Marx, so wie Marx in einem anderen Sinne das lebendige Bindeglied zwischen der Französischen Revolution und der bolschewistischen Revolution war.

Im Jahrzehnt vor dem ersten imperialistischen Weltkrieg behaupteten sowohl der französische bürgerliche Radikale Clemenceau als auch Lenin, für das jakobinische Erbe zu stehen – der erste im Namen des französischen Chauvinismus und Imperialismus, der zweite im Namen der proletarischen Revolution und des Internationalismus. Da jedoch Lenins Errungenschaften – außer von der französischen Bourgeoisie – als weitaus größer angesehen werden als die von Clemenceau, wird der Jakobinismus heute in den meisten Teilen der Welt mit dem Bolschewismus und nicht mit dem Clemenceauismus in Verbindung gebracht.

In den Vereinigten Staaten gibt es zum Beispiel eine Zeitschrift namens National Geographic, die als populäres und unpolitisches Magazin gilt. Es wird von Millionen von Schulkindern gelesen, und man findet es sogar in den Wartezimmern von Arztpraxen. Wie ihr seht, ist die Juli-Ausgabe der Zweihundertjahrfeier Frankreichs gewidmet, und darin heißt es:

„Erst anderswo und erst im 20. Jahrhundert setzten sich Männer vom Typ Robespierre durch, als sie zunächst in Russland und dann in vielen anderen Ländern die Macht an sich rissen. Diese modernen Despoten handelten mit der gleichen brutalen Gewalt wie die Pariser Vorbilder, um ihre Feinde zu vernichten, die Vergangenheit zu zerstören und die totale Autorität der Revolution durchzusetzen.“

Seit zweihundert Jahren ein politisches Schlachtfeld

In gewissem Sinne ist es sinnlos, die Frage zu stellen: Wer sind die Erben der Jakobiner heute? Denn die Französische Revolution als solche ist ein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte. Es kann nicht genug betont werden, dass sie in einer vorindustriellen Gesellschaft stattfand, die überwiegend eine Agrargesellschaft war. Der typische französische Ladenbesitzer oder Handwerker – der so genannte Sansculotte – gab 50 bis 75 Prozent seines Einkommens für Lebensmittel aus.

Von den vier in der Revolution konkurrierenden Klassen, existieren in der der modernen Welt drei nicht mehr, und die vierte – die Bauernschaft – ist ein kleiner Rest dessen, was sie zu jener Zeit war. Natürlich gibt es den Landadel und das Handwerkerproletariat – kein industrielles, sondern ein Handwerkerproletariat – nicht mehr. Wenn wir von der Bourgeoisie sprechen, dann das ist eine vorindustrielle Bourgeoisie. Es ist eine Bourgeoisie, deren Reichtum aus der Produktion, der Verarbeitung, dem Vertrieb und der Finanzierung von Agrarprodukten stammt. Es sei daran erinnert, dass die wichtigste Schule der bürgerlichen politischen Ökonomie im Frankreich des 18. Jahrhunderts, die Physiokraten, behauptete, dass der Boden die einzige Quelle des Reichtums sei und dass alle anderen wirtschaftlichen Aktivitäten von der Landwirtschaft abgeleitet waren.

Doch angesichts der Intensität der Debatten über die Französische Revolution, könnte man meinen, dass sie vor 20 Jahren stattgefunden hat und nicht vor 200 Jahren. Die Französische Revolution erscheint im Bewusstsein der modernen Welt größer als Revolutionen, die zeitlich viel näher liegen. Wie viele Menschen können selbst in Frankreich die Namen der führenden Persönlichkeiten der Revolution von 1848 oder der Pariser Kommune nennen? Und doch sind Marie-Antoinette und Robespierre in das politische Vokabular der modernen Welt eingegangen, die erste als Symbol der Arroganz der herrschenden Klasse, der zweite als Symbol für revolutionäre Unnachgiebigkeit oder Fanatismus. Selbst Danton ist zum Symbol der Mäßigung geworden, der ewige Liberale auf der Suche nach einem Mittelweg zwischen Reaktion und revolutionärem Extremismus.

In den letzten 200 Jahren hat jede Generation die Französische Revolution aufs Neue ausgetragen. In den 1830er Jahren schrieb James Bronterre O’Brien, ein Führer der britischen Chartisten, eine Biographie über Robespierre, den er als einen der größten und reinsten Reformer der Geschichte ansah. In den 1840er Jahren glaubten die jungen Marx und Engels, dass das jakobinische Regime die politische Macht der Arbeiterklasse ihrer Zeit repräsentierte, wenn auch unter Bedingungen, die den historischen Interessen der bürgerlichen Revolution dienen mussten. In den 1850er Jahren schrieb Charles Dickens, der führende literarische Vertreter des englischen Liberalismus, einen Roman über die Französische Revolution, Eine Geschichte aus zwei Städten.7 In diesem Werk wird der jakobinische Terror8 als Blutrausch des Volkes dargestellt. (Margaret Thatcher hat Mitterrand ein Exemplar dieses Buches zur Zweihundertjahrfeier geschenkt.)

Im Jahr 1904 erklärte Lenin, dass ein Bolschewik ein Jakobiner ist, der untrennbar mit der Organisation der Arbeiterklasse verbunden ist.9 1933 erklärte der Bildungsminister Nazideutschlands, dass der Sieg des Nationalsozialismus ein Sieg über die Französische Revolution sei. Ein paar Jahre später nannte Trotzki die stalinistische bürokratische Konterrevolution den sowjetischen Thermidor, das Äquivalent in der Sowjetunion zum französischen Thermidor von 1794, der das revolutionär-demokratische Regime der Jakobiner stürzte. Als die französischen Stalinisten Mitte der 30er Jahre die Volksfront initiierten, etablierten sie einen Kult um Robespierre, den sie bis zu einem gewissen Maße bis heute aufrechterhalten haben – sehr zum Unbehagen der Gorbatschow-Anhänger!

In den 1950er Jahren kam der US-amerikanische Reaktionär Henry Kissinger erstmals zu akademischer Bekanntheit, als er ein Buch schrieb, in dem er den habsburgischen Minister Fürst Metternich pries, den Hauptarchitekten der europäischen Reaktion gegen die Französische Revolution. In den frühen 1980er Jahren produzierte der polnische Filmregisseur Andrzej Wajda, ein führender Unterstützer von Solidarność, den Film Danton, der von der Regierung Mitterrand finanziert wurde. Dieser Film zeigte Robespierre als blutdürstiges, paranoides Monster wie Stalin und verherrlichte Danton als Vertreter eines modernen Liberal-Jakobinismus mit menschlichem Antlitz. Als vor ein paar Jahren der Historiker der Kommunistischen Partei Frankreichs, Michel Vovelle, China besuchte, sagten ihm die Beijinger Behörden: „Wir sind Thermidorianer.“ Und bei der Zweihundertjahrfeier nahm der Erzbischof von Polen, Kardinal Glerup, an den Gedenkfeiern des katholisch-royalistischen Aufstandes in der Vendée teil.

Was hat es mit dieser 200 Jahre alten bürgerlich-demokratischen Revolution auf sich, dass jede Generation eine politische Parallele zu ihrer eigenen Zeit sieht? Warum wurde diese bürgerliche Revolution, sowohl damals als auch später, von so vielen als antibürgerliche Revolution angesehen? Warum wurde der größte Revolutionsführer des französischen Staates, Maximilien Robespierre, 200 Jahre lang als blutrünstiges Monster und obendrein als Vorläufer des Kommunismus verunglimpft?

Warum war die Französische Revolution so radikal?

Es gibt eine lange intellektuelle Tradition von Edmund Burke bis François Furet, die die ganze Sache auf den verhängnisvollen Einfluss der Philosophen der Aufklärung schiebt. Irgendwie, so behaupten sie, hat eine Gruppe von verrückten Rousseauianern Frankreich übernommen und versucht, die Republik der Tugend durch eine Schreckensherrschaft zu errichten. Der arme Jean-Jacques Rousseau ist von den September-Massakern 1792 bis zu Stalins Gulag für alles verantwortlich gemacht worden. (Es könnte ihn amüsieren. Tatsächlich hatte er keinen Sinn für Humor – es hätte ihn also nicht amüsiert. Ein sehr humorloser Typ.)

Es ist richtig, dass man sehr radikale Schlüsse aus dem Begriff des „edlen Wilden“ ziehen kann. Es gibt ein Essay über Kannibalen von Montaigne, einem Wegbereiter der französischen Aufklärung. Er erzählt von einem brasilianischen Kannibalen, der gefangen genommen und nach Frankreich gebracht wurde. Er war offenbar ein intelligenter Mann und lernte schnell Französisch. Eines Tages fragte ihn jemand, was er von der französischen Zivilisation halte. Und er antwortete, dass es viele wunderbare Dinge in Frankreich gäbe, aber eine Sache wäre da, die er nicht verstehen könnte: er sah Bettler, die am Verhungern waren, nur Haut und Knochen, und dann sah er reiche Leute, die vor Fett trieften, und er konnte nicht verstehen, warum die Bettler die reichen Leute nicht töteten und aßen. Er war offensichtlich ein primitiver Kommunist – „très primitif.

Aber die Französische Revolution war natürlich kein Produkt einer radikalen Ideologie. Sie war ein Produkt der Wirtschafts- und Klassenstruktur der französischen Gesellschaft. Und um die Radikalität der Revolution zu verstehen, ist es nützlich, sie mit der englischen bürgerlichen Revolution zu vergleichen. Sowohl vor, während, als auch nach der Französischen Revolution wurde England mit seiner konstitutionellen Monarchie und seinem Parlament der Grundeigentümer als Vorbild für das herangezogen, was Frankreich sein sollte. Noch heute beklagt Furet, dass eine französische Tory-Partei die Revolution nicht zusammenhalten und dominieren konnte.

Aber das ist eine rein idealistische Auffassung, weil die englische Ökonomie zur Zeit des Englischen Bürgerkriegs grundverschieden von der französischen Ökonomie zur Zeit der Revolution war. Seit dem 16. Jahrhundert wurde die englische Bauernschaft durch die „Enclosure Movement“10 vom Land vertrieben. Ein Großteil der englischen Landschaft wurde in Weiden für Schafe umgewandelt, um Wolle für den Weltmarkt zu produzieren. In damaliger Sprache: „Die Schafe fraßen die Menschen auf“.11

Ein ganzer Teil des englischen Landadels wurde im Grunde zu bürgerlichen Landbesitzern. Als der Bürgerkrieg ausbrach, unterstützte eine Minderheit der Landaristokratie das Parlament und eine größere Zahl blieb neutral — sie verwalteten ihre Ländereien und verdienten weiterhin Geld. Die radikale Partei in der englischen Revolution – die Levellers – forderte den Abbruch der Enclosure-Bewegung und die Wiederansiedlung der Bauern auf dem Land. Das heißt, sie wollten den Kurs der wirtschaftlichen Entwicklung umkehren. Aber das war nicht nur politisch nicht durchführbar, es war wirtschaftlich utopisch.

Die englische Landwirtschaft war bereits sehr wettbewerbsfähig und auf eine Marktwirtschaft ausgerichtet. Es reichte nicht aus, Land zu besitzen, man musste auch Kapital haben, um zu investieren und die Erträge zu steigern, so dass der bäuerliche Kleinbesitz in England wirtschaftlich nicht länger lebensfähig war so wie immer noch im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts. Während des Englischen Bürgerkriegs erklärte der Cromwellsche Oberst William Sydenham dem Parlament, dass es sinnlos sei, den besitzlosen Soldaten kostenloses Land zu geben: „Sie sind arm, und wenn man ihnen Land zuteilt, müssen sie es wieder verkaufen.“12 Der historische Kompromiss zwischen dem Adel und der Bourgeoisie, der den Englischen Bürgerkrieg beendete, war möglich, weil die englische Landwirtschaft bereits einen langen Weg in Richtung Kapitalismus zurückgelegt hatte.

Aber das Frankreich der bourbonischen Monarchie war immer noch ein Land der Kleinbauern, die eine Vielzahl feudaler Abgaben sowohl an den Landadel als auch an die vielen Bürger zu zahlen hatten, die Land erworben hatten. Wenn man in England von einer Bourgeoisierung eines Teils des Adels sprechen kann, hatte man in Frankreich eine Feudalisierung eines Teils der Bourgeoisie. Und die Hauptfunktion des absolutistischen Staates bestand darin, der Bauernschaft Pacht für die Grundbesitzer abzunehmen. Als die Autorität des monarchistischen Staates 1789 zerstört wurde, polarisierte sich die französische Gesellschaft auf ganz andere Weise als in England während des Bürgerkriegs ein Jahrhundert zuvor.

Furet ist berühmt für die These, dass die französische Revolution „vom Weg abgekommen“ ist.13 Natürlich, so behauptet er, hätte es so enden müssen wie in England – einer konstitutionellen Monarchie mit einem Parlament aus Landbesitzern. Aber in Wirklichkeit lief sie nicht aus dem Ruder, denn die bürgerlichen Liberalen hatten einen Kurs ins Niemandsland eingeschlagen. Einerseits erklärten sie den Feudalismus für abgeschafft. Andererseits forderten sie die Bauern auf, weiterhin die Hauptpacht zu zahlen oder sie für das 20- bis 25-fache des Jahresbetrags abzulösen. Nun, die Bauern beschlossen, dass der Feudalismus abgeschafft wurde, und weigerten sich, Pacht an ihre Grundherren zu zahlen. Und die französische Armee war so uneinig, fraktioniert und meuterisch, dass sie nicht mehr als Instrument zur Unterdrückung von Bauernaufständen dienen konnte.

Der Grund für die Ablehnung der liberalen Revolution von Mirabeau und Lafayette durch die französische Aristokratie waren nicht in erster Linie reaktionäre ideologische Vorurteile – der Glaube, dass sie alle von Karl dem Großen abstammten. Das war nicht der Hauptgrund. Vielmehr konnten sie eine Revolution nicht akzeptieren, deren Folgen sie um den für ihre Existenz als Klasse notwendigen ökonomischen Mehrwert brachten. Die Politik der französischen Aristokratie war es daher, einen monarchistischen Staat wiederherzustellen, indem sie die ausländischen absolutistischen Staaten ermutigte, in Frankreich einzufallen und es zu besetzen. In Frankreich war ein historischer Kompromiss zwischen Aristokratie und Bourgeoisie nur auf der Grundlage einer erfolgreichen Konterrevolution möglich, die den Bauernaufstand niederschlug und in gewisser Weise die Ausbeutung der Bauernschaft sowohl durch Teile der Bourgeoisie als auch der Aristokratie wiederherstellte.

Selbst erfahrene Historiker wie Furet machen weiterhin die Persönlichkeiten des Königshauses für die Radikalisierung der Revolution verantwortlich. Wäre Ludwig nicht so verbohrt und stur gewesen, wäre Marie-Antoinette nicht so oberflächlich und arrogant gewesen, säße heute noch ein Bourbon in Versailles und nicht dieser Emporkömmling Mitterrand. Aber tatsächlich handelte Louis als ein verantwortungsbewusster Vertreter seiner Klasse, und das war der Adel. Während er in der Öffentlichkeit die Revolution zähneknirschend akzeptierte, rief er privat die gekrönten Häupter Europas auf, in Frankreich einzumarschieren und seine Autorität wiederherzustellen.

Ein entscheidender Wendepunkt in der Französischen Revolution war die gescheiterte Flucht des Königs im Juni 1791, als Louis versuchte, aus Frankreich zu fliehen und sich seinen habsburgischen Landsleuten anzuschließen. Dies zerstörte viele Illusionen des Volkes in Louis und führte zu einer Welle des volkstümlichen Radikalismus seitens der städtischen Unterschicht, der Sansculotten. Gleichzeitig war ein Teil der liberalen Bourgeoisie nun erst recht davon überzeugt, dass die Monarchie ein notwendiger Schutz gegen den Radikalismus des Volkes sei. So erklärte Barnave, einer der wichtigsten liberalen Führer der verfassunggebenden Versammlung, einen Monat nach der gescheiterten Flucht des Königs:

„Wollen wir die Revolution beenden, oder wollen wir von neuem mit ihr beginnen? … Mit noch einem Schritt voran würden wir Unheil und Schuld auf uns laden, ein Schritt weiter auf dem Wege der Freiheit wäre die Zerstörung des Königtums, ein Schritt weiter auf dem Wege der Gleichheit wäre die Zerstörung des Eigentums.“14

Und gleich am nächsten Tag nach dieser Rede von Barnave wurde eine große Gruppe von Demonstranten, die die Abschaffung der Monarchie und die Errichtung einer Republik forderten, auf dem Champ de Marse von der Nationalgarde von Lafayette niedergemetzelt. Das Massaker auf dem Champ de Marse spaltete die bis dahin patriotische Bourgeoisie unwiderruflich in feindliche Lager. Robespierre erklärte später, er sei erst nach diesem Massaker von der Notwendigkeit einer Republik überzeugt gewesen.

Die Spaltung der Bourgeoisie ermöglichte es den plebejischen Massen in Paris, als einigermaßen unabhängige revolutionäre Kraft aufzutreten. Die Errichtung einer demokratischen Repulik bedeutete also die Mobilisierung der städtischen plebejischen Massen außerhalb der repräsentativen Institutionen der Bourgeoisie und bis zu einem gewissen Grad gegen sie. Die Journée [d.h. der Aufstand] vom 10. August 1792 führte nicht nur zum Sturz des Königs, sondern schuf auch eine Doppelherrschaft zwischen der Pariser Kommune und den Sektionen der Stadt einerseits und der gesetzgebenden Versammlung und später dem Konvent andererseits.

Gleichzeitig verwandelte der Sturz der Monarchie die Revolution in einen europaweiten Krieg. Sechs Tage nach der Erstürmung des Tuilerienpalastes, durch den der König gestürzt wurde, marschierte eine Armee aus Preußen, Österreichern und französischen Emigranten in Frankreich ein. Der Befehlshaber der Armee, der deutsche Herzog von Braunschweig, drohte den Parisern mit einer schrecklichen und grausamen Rache, weil sie es gewagt hatten, Hand an den heiligen Monarchen zu legen. Der Herzog von Braunschweig und alle Royalisten in Europa waren äußerst zuversichtlich, dass sie diesen französischen Pöbel hinwegfegen, in Paris einmarschieren und den König wieder auf den Thron setzen würden.

Die französische Armee traf auf diese überwiegend preußische Armee etwa 70 Meilen von Paris auf einer Hügelkuppe namens Valmy. Die französische Armee war gegenüber den Preußen in der Überzahl. Die französische Infanterie stand den Preußen gegenüber, der gefürchtetsten, diszipliniertetsten und bestausgebildeten Armee des europäischen Ancien Régimes. Die französische Artillerie und Artillerieoffiziere erwiesen sich als überlegen. Am Ende des Tages brach ein sintflutartiger Regen los und die preußische Armee zog sich zurück, in ihrem Vertrauen etwas erschüttert. An der Seite der preußischen Armee war an diesem Tag der deutsche Schriftsteller Goethe, und einem Bericht zufolge stand er in jener Nacht, als der Regen niederging, mitten auf dem Schlachtfeld und sagte: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“15

Das jakobinische Regime, das durch die Journée vom 2. Juni 1793 ins Leben gerufen und mit dem Sturz Robespierres am 9. Thermidor, Juli 1794, zu Fall gebracht wurde, war sowohl der Höhepunkt der Französischen Revolution als auch einer der außergewöhnlichsten Momente in der Geschichte der westlichen Welt. Seither drehen sich fast alle leidenschaftlichen Debatten und Konflikte um die Französische Revolution um genau diesen kurzen Zeitraum. Seit 200 Jahren prangern Reaktionäre und Liberale den jakobinischen Terror als ein großes Verbrechen gegen die Menschlichkeit an, das im Namen der roten Revolution verübt wurde. Gleichzeitig glaubte der junge Marx, dass das jakobinische Regime die politische Herrschaft des Proletariats darstellte. Mit diesem Irrtum drückte er die Ansichten vieler Teilnehmer der Revolution selbst aus.

Nach dem Sturz der Monarchie radikalisierten sich die plebejischen Massen in Paris zunehmend, vor allem weil ihr Lebensstandard durch die kriegsbedingte Inflation gesunken war. Die Sansculotten erhoben zunehmend wirtschaftliche Forderungen, die sowohl den Interessen der Bourgeoisie als auch denen von Teilen des gehobenen Kleinbürgertums zuwiderliefen. Sie forderten Preiskontrollen, Gesetze gegen Hortung und Spekulation, und diese Fragen vertieften die Spaltung innerhalb der revolutionären Bourgeoisie, die auf der Grundlage des Konvents regierte. Der rechte Flügel der revolutionären Bourgeoisie, die Girondisten, lehnte diese Forderungen im Namen des wirtschaftlichen Laissez-faire ab. Der linke Flügel, die Montagnards – die wir heute als Jakobiner bezeichnen – war bereit, diese Forderungen auf halbem Wege zu erfüllen. So brandmarkten die Girondisten die Montagnards – die Robespierristen – praktisch als Kommunisten. Der Girondistenführer Brissot sagte über die Montagnards: „Die Zerstörer sind diejenigen, die alles gleichmachen wollen, das Eigentum, den Wohlstand, die Lebensmittelpreise und die für die Gesellschaft zu leistenden Dienste.“16

Das war eine demagogische Verfälschung, denn die Montagnards waren keine sozialen Gleichmacher. Im Februar 1793 brachen die Armen von Paris in zahlreiche Geschäfte ein, nahmen Zucker und Seife mit und bezahlten sie zu Preisen, die weit unter den marktüblichen lagen. Diese Aktion wurde nicht nur von den Girondisten, sondern auch von den Anführern der Montagnards, Robespierre und Marat, als Störung der Einheit der französischen „patrie“17 angeprangert, da für sie auch die Ladenbesitzer und Kaufleute Teil der „patrie“ waren.

Eine solche Opposition riskierte jedoch, die Sansculotten zu entfremden und sie zu einer Führung links von den Jakobinern zu treiben, d.h. zu Militanten wie Jacques Roux und Pierre Vadet, die spätere Historiker als die Enragés bezeichneten. Robespierre und seine Mitstreiter beschlossen also, den Radikalismus der Sansculotten zu beschwichtigen, zu vereinnahmen und zu nutzen, anstatt ihn einfach zu bekämpfen. Und in der Tat übernahm die Montagnard-Führung die Macht durch die Journée vom 2. Juni, als 80000 Nationalgardisten den Konvent umstellten und die Säuberung der Girondistenführer forderten.

Marx irrte sich, als er glaubte, dies stellte den Beginn der politischen Herrschaft des Proletariats, des Handwerkerproletariats, dar. Was tatsächlich geschah, war, dass das Proletariat Frankreich die Regierung einer revolutionären Minderheit der Bourgeoisie aufzwang. Aber in der irrtümlichen Auffassung von Marx steckte ein wichtiger Keim historischer Wahrheit – nämlich, dass die Journée des 2. Juni der entfernte Vorläufer der Diktatur des Proletariats war, weil sie den Aufstand des Pariser Proletariats in den Junitagen der Revolution von 1848 inspirierte, einen Aufstand, den Marx als den ersten Versuch bezeichnete, die Diktatur des Proletariats zu errichten. Und die Junitage von 1848 waren ein wichtiger Faktor, der die Aufstände inspirierte, aus denen eine Generation später die Pariser Kommune hervorging.

Es ist sehr bezeichnend, dass der Liberale Francois Furet noch heute die Erbsünde der Jakobiner darin sieht, dass sie durch die Verletzung der parlamentarischen Souveränität an die Macht kamen. Dementsprechend schreiben Furet und Denis Richet in ihrem Buch Die Französische Revolution:18 „Die ganze bürgerliche Revolution beruht selbst dann noch, wenn sie demokratische Verfahrensweisen vorwegnimmt, auf dem Glauben an den Wert und die Berechtigung repräsentativer Lenkung. … Der 2. Juni ist … für das parlamentarische System ein sehr schwerer Schlag.“19 Dies ist einer der wenigen Fälle, in denen ich mit Furet übereinstimme, denn 125 Jahre später war der Nachhall dieser Journée zu hören, als die Bolschewiki im Namen der Sowjetmacht die Konstituierende Versammlung auflösten.

Aber die ursprüngliche Journée schuf nur ein instabiles Regime der revolutionären Bourgeoisie, das sich auf Klassen mit grundlegend unterschiedlichen und gegensätzlichen wirtschaftlichen Interessen stützte. Während sich alle dramatischen Ereignisse der Französischen Revolution in den Städten, vor allem in Paris, abspielten, liegt der Schlüssel zur Revolution in den Geschehnissen auf dem Lande. Solange die Bauern noch um die Abschaffung des feudalen Ausbeutungssystems kämpften, bewegte sich die Französische Revolution nach links. Eine der ersten Handlungen des jakobinisch dominierten Konvents bestand jedoch darin, die Abschaffung aller feudalen Pachten ohne jegliche Entschädigung anzuordnen. Außerdem ordneten sie die Verbrennung der Eigentumsurkunden an.

Sobald sich die Bauernschaft als Kleineigentümer sicher fühlte, gerieten ihre wirtschaftlichen Interessen offensichtlich in Konflikt mit denen der städtischen Unterschichten. Sie wollten hohe Lebensmittelpreise, die städtischen Unterschichten wollten niedrige Lebensmittelpreise. Daher hatte die Revolutionsarmee während eines Großteils des jakobinischen Regimes die Aufgabe, der Bauernschaft Getreide zu Preisen unterhalb des natürlichen Marktpreises abzuknöpfen. Dies machte das Robespierre-Regime auf dem Lande nicht sehr beliebt.

Gleichzeitig spaltete die Frage der Wirtschaftskontrollen auch die Sansculotten entlang der Klassengrenzen. Natürlich konnten alle Pariser Unterschichten zustimmen, dass der Getreidepreis gesenkt werden sollte. Aber das so genannte „große Maximum“,20 die Kontrolle aller wichtigen Preise und Löhne, führte zu Interessenkonflikten zwischen den kleinen Grundbesitzern – den Ladenbesitzern und Handwerksmeistern – und den Lohnempfängern wie den Handwerksgesellen und Tagelöhnern. Im Herbst 1793 kam es zu heftigen Konflikten zwischen den Marktfrauen von Les Hailes, die sich gegen die Preiskontrollen wehrten, und der „Gesellschaft der revolutionären republikanischen Frauen“, die der Enrage-Strömung angehörte und strengere und besser durchgesetzte Preiskontrollen wollte. Die jakobinische Führung nutzte dies als Vorwand, um die „Gesellschaft der revolutionären republikanischen Frauen“ zu unterdrücken.

Die Klassenwidersprüche ihrer politischen Basis erklären die inneren Widersprüche der jakobinischen Ideologie. In praktisch jeder Rede und jedem Schriftstück von Robespierre und Saint-Just zur Frage des Eigentums widerspricht ein Satz dem vorhergehenden und dem nachfolgenden Satz. Hier zum Beispiel Robespierre im Frühjahr 1793: „… es wäre sicherlich keine Revolution notwendig, um der Welt zu zeigen, daß extreme Mißverhältnisse der Besitztümer die Quelle für viele Mißstände und viele Verbrechen sind…“21 Das klingt ziemlich gut. Allerdings fährt er fort: „… aber wir sind nicht weniger überzeugt, daß eine Gleichheit des Besitzes ein Traumgespinst ist… Es geht eher darum, die Armut zu einem ehrbaren Stand zu machen, als den Reichtum zu ächten.“22 Nun, dem könnten sogar Chirac und Raymond Barre zustimmen! Robespierre erklärt, dass er für das Recht auf Eigentum eintritt, aber dann schränkt er es ein: „Das Eigentum darf weder die Sicherheit, die Freiheit, die Existenz noch das Eigentum unserer Mitmenschen beeinträchtigen.“23 Das ist eine völlig utopische Einschränkung.

Die Widersprüche der jakobinischen, oder revolutionären, Bourgeoisie bestanden natürlich nicht nur im Bereich der Ideen. Sie existierten auch im Bereich der realen Politik, und unter dem Druck der widerstreitenden sozialen Kräfte begann die jakobinische Bourgeoisie in erbittert verfeindete Fraktionen auseinanderzubrechen. Auf der rechten Seite standen die so genannten Indulgents24 unter der Führung Dantons, die einen Kompromiss mit den konterrevolutionären Kräften – sowohl mit den ausländischen Royalisten als auch mit den einheimischen Konterrevolutionären – aushandeln und eine Wirtschaftspolitik zugunsten der Bauern und der Bourgeoisie verfolgen wollten. Auf der Linken gab es die so genannten Exageres25 unter der Führung von Hebert und Chaumette, die eine für die Sansculotten günstigere Wirtschaftspolitik wollten. Robespierre und Saint-Just versuchten, die Mitte zu besetzen. Im Frühjahr 1794 zerstörte das Zentrum unter Robespierre die linken und rechten jakobinischen Fraktionen physisch, indem es ihre Führer hinrichten ließ. Dadurch wurde die soziale und politische Basis des gesamten jakobinischen Regimes erheblich eingeengt und die Grundlage für Robespierres Sturz einige Monate später gelegt.

Bevor ich auf den Thermidor und seine Folgen eingehe, möchte ich die Frage der sogenannten Schreckensherrschaft erörtern, denn dies war 200 Jahre lang der Hauptangriffspunkt sowohl der Reaktionäre als auch der Liberalen gegen die Französische Revolution. Ungefähr 16000 Menschen wurden hingerichtet, vielleicht weitere 20000 Menschen wurden ohne Gerichtsverfahren umgebracht. Es ist bedauerlich, dass sich das gängige Bild der Schreckensherrschaft auf Paris konzentriert – die Hinrichtungen von Marie-Antoinette, Danton, Hebert und Chaumette –, denn der Schrecken in Paris war untypisch für den Schrecken insgesamt und machte darüber hinaus nur einen kleinen Teil der Menschen aus, die hingerichtet oder getötet wurden – viel weniger als 10 Prozent.

Mehr als 70 Prozent der Menschen, die hingerichtet wurden, und noch viel mehr der Menschen, die ohne Gerichtsverfahren getötet wurden, wurden in nur zwei Regionen Frankreichs umgebracht – beides Regionen, in denen heftiger Bürgerkrieg herrschte: in der Vendee und der Gironde im Westen Frankreichs sowie in Lyon und im unteren Rhonetal. In der Hälfte der französischen Departements gab es keinen Terror; es wurde praktisch niemand getötet. Mehr als 80 Prozent der zum Tode Verurteilten wurden dabei erwischt, wie sie mit der Waffe in der Hand gegen die revolutionäre Regierung kämpften. Der Terror war also einfach die revolutionäre Seite in einem Bürgerkrieg, in dem keine Seite ein Pardon gab oder Gefangene machte.

Wir US-Amerikaner haben einen noch blutigeren Bürgerkrieg als den der Französischen Revolution geführt. Während dieses Bürgerkriegs verwüstete der Unionsgeneral William Sherman den Bundesstaat Georgia und brannte die Häuser der Sklavenhalter nieder. Dafür wurde er beschuldigt, ein Barbar zu sein, ein moderner Attila der Hunne. Sherman erwiderte: „Wenn das Volk einen Aufschrei gegen meine Barbarei und Grausamkeit erhebt, werde ich antworten, dass Krieg Krieg ist, und nicht das Streben nach Beliebtheit. Wenn sie Frieden wollen, müssen sie und ihre Angehörigen den Krieg beenden.“

Ich möchte betonen, dass die Schreckensherrschaft der Jakobiner nichts mit totalitärer Gedankenkontrolle oder Stalins Russland zu tun hatte. Wenn man die Briefe und Tagebücher der Soldaten der Revolutionsarmee liest, beklagen sie sich ständig darüber, dass Royalisten und Konterrevolutionäre sie beleidigen, dass die Kellnerinnen, die sie bedienen, offen ihre Sympathie für die Konterrevolution bekunden, ohne Repressalien zu befürchten.

Es gibt noch eine weitere wichtige Frage, und zwar die nach dem Ausmaß. Der letzte große Krieg im Europa des Ancien Régime vor der Französischen Revolution war der Siebenjährige Krieg von 1756 bis 1763. In diesem Krieg stand das Preußen Friedrichs des Großen einer europäischen Koalition aus Österreich, Russland, Frankreich und anderen europäischen Mächten gegenüber. Während dieses Krieges wurden 100000 Preußen getötet, nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten. Da die preußische Armee eine sehr effiziente Tötungsmaschine war, tötete sie etwa 200000 nicht-preußische Deutsche, Russen und andere. Der Krieg endete in einer Pattsituation. Der Vertrag, der ihn beendete, bestätigte lediglich die Vorkriegsgrenzen aller Konfliktparteien. Mit anderen Worten: Eine Generation vor der Französischen Revolution wurden 300000 Menschen – zehnmal so viele wie während des Jakobinerterrors – für absolut nichts getötet, für keinerlei politischen oder sozialen Nutzen. Doch heute wird Friedrich der Große allgemein verehrt, auch von den ostdeutschen Stalinisten, während Robespierre als blutrünstiges Ungeheuer verunglimpft wird.

In beliebigen sechs Stunden einer der großen Schlachten Napoleons – Eylau, Austerlitz, Borodino – wurden mehr Menschen getötet als während der gesamten sogenannten Schreckensherrschaft hingerichtet wurden. Während des Ersten Weltkriegs wurden 2700 französische Soldaten von der französischen Regierung wegen Kriegsdienstverweigerung, Desertierung oder Meuterei hingerichtet. Das waren mehr, als in Paris unter den Jakobinern hingerichtet wurden. Mit anderen Worten: Die Regierung von Petain, Foch und Clemenceau hat mehr französische Soldaten hingerichtet als die Regierung von Robespierre in Paris während der gesamten Zeit des Terrors. Dieses Verbrechen der französischen Bourgeoisie ist heute praktisch unbekannt. Das ganze Geschrei gegen den Terror hat also nichts mit Humanität zu tun, sondern ist ausschließlich durch die Feindschaft gegen die radikale soziale Revolution motiviert.

Die französische Bourgeoisie war nur so lange bereit, die Ausnahmeherrschaft von Robespierre – die jakobinische Diktatur – zu akzeptieren, wie sie notwendig war, um die Kräfte der Konterrevolution zu besiegen. Im Juni 1794 errangen die französischen Revolutionsarmeen bei Fleurus in Belgien einen entscheidenden Sieg über die Habsburger. Einen Monat später, am 27. Juli (9. Thermidor nach dem revolutionären Kalender), kamen die verschiedenen Fraktionen der revolutionären Bourgeoisie zusammen und stürzten Robespierre.

Das Erbe von Babeuf

Zunächst wurde der Thermidor offenbar von den meisten Teilen der französischen Gesellschaft begrüßt, auch von den Sansculotten. Und hier ist die Reaktion von Babeuf äußerst interessant. Babeuf selbst war lose mit den linken Jakobinern wie Chaumette, dem Staatsanwalt der Pariser Kommune, verbunden. Während der letzten Monate des jakobinischen Regimes saß er jedoch in der Provinz im Gefängnis. Er wurde einige Tage vor dem Sturz Robespierres aus dem Gefängnis entlassen und war anfangs ein glühender Anhänger und Propagandist der Thermidorianer, die seiner Meinung nach eine neue Periode der politischen Freiheit und Demokratie einleiteten.

Nach einigen Monaten wurde jedoch deutlich, dass die Abschaffung der Wirtschaftskontrollen das Pariser Proletariat ins äußerste Elend stürzte, dass die Sansculotten-Aktivisten verfolgt wurden und dass die Bourgeoisie des Thermidor die Demokratie der Pariser Bezirke weitaus rigoroser und rücksichtsloser unterdrückte als Robespierre es getan hatte. Und so änderte Babeuf seinen Standpunkt und erkannte, dass der Thermidor eine bürgerliche Reaktion war, die sich in die Sprache der liberalen Prinzipien kleidete. Er erkannte auch, dass es nicht ausreicht zu versuchen, den Kalender auf die Zeit vor dem Thermidor zurückzustellen.

Er erkannte, dass die grundlegende Spaltung nicht mehr zwischen der Aristokratie und den Patrioten, zwischen den Royalisten und den Republikanern bestand, sondern zwischen den Reichen und den Armen, den Ausbeutern und den Ausgebeuteten. Es reichte nicht aus zu versuchen, die verschiedenen Wirtschaftskontrollen des Jahres II wieder einzuführen. So war eine Herrschaft der Gleichheit nur unter der von ihm als „le bonheur commun“26 bezeichneten Form eines rudimentären Verteilungskommunismus möglich, bei dem alle arbeiten und ihre Güter in ein gemeinsames Lager einbringen, aus dem sie dann unter allen Bürgern gleichmäßig verteilt werden.

Babeufs veränderte Haltung gegenüber dem Robespierre-Regime war nicht nur eine individuelle Reaktion. Mit der Verschärfung der thermidorianischen Reaktion begannen viele der Sansculotten-Aktivisten auf das Robespierre-Regime als eine Art goldenes Zeitalter zurückzublicken, in dem das Brot billig war und ein armer Mann seine Meinung sagen konnte. Babouf, Bunarotti und ihre Mitstreiter verbanden daher ihr kommunistisches Programm mit dem alten Robespierre-Regime.

Dies löste eine sehr interessante Debatte innerhalb der babouvistischen Bewegung aus. Einer der Organisatoren, Joseph Bodson, ein alter Hébertist, wandte sich dagegen, le bonher commun mit Robespierre in Verbindung zu bringen, der seiner Meinung nach viele gute Revolutionäre vernichtet hatte. Babeuf antwortete in einem Brief, der von großer politischer Einsicht zeugt und der uns auch erklärt, warum Robespierre noch heute in der offiziellen bürgerlichen Meinung so verleumdet wird:

„Der Robespierrismus ist in der ganzen Republik, in der ganzen klugen und weitsichtigen Klasse und natürlich im ganzen Volk. Der Grund dafür ist einfach, Robespierrismus ist Demokratie, und diese beiden Worte sind vollkommen identisch: wenn man also den Robespierrismus wiederbelebt, ist man sicher, dass man die Demokratie wiederbelebt.“27

So wurde Robespierre nur wenige Jahre nach seinem Sturz zu einem Symbol für radikale Demokratie und Gleichheit, das über die konkrete Erfahrung des Jakobinerregimes hinausging. Babeufs Verschwörung der Gleichen wurde von der thermidorianischen Bourgeoisie leicht unterdrückt, und innerhalb weniger Jahre war sie ein weitgehend vergessenes Ereignis. Dennoch hatte sie eine welthistorische Bedeutung, die in vielerlei Hinsicht mit den anderen Errungenschaften der Französischen Revolution vergleichbar ist. So stellt Trotzki im Gründungsmanifest der Kommunistischen Internationale fest, dass „wir, die in der Dritten Internationale vereinigten Kommunisten, [fühlen] uns als die direkten Fortsetzer der heroischen Anstrengungen und des Märtyrertums einer langen Reihe revolutionärer Generationen, von Babeuf bis Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.“28 Und die Kommunisten der Generation von Marx und Engels sahen in Babeuf den Fortsetzer der Prinzipien der Französischen Revolution. Dementsprechend schrieb Engels 1845, „die Verschwörung Babeufs für die Gleichheit [brachte] die letzten Konsequenzen der 93er Demokratie – soweit sie damals möglich waren – an den Tag“.29

Die Französische Revolution und bürgerliche Reaktion

Wie kam es, dass eine extrem linke Erweiterung des Jakobinertums, eine Bewegung, die zu ihrer Zeit fast keinen Einfluss hatte, von späteren Generationen als die legitime Fortsetzung der Großen Französischen Revolution angesehen wurde? Die Antwort ist, dass die jakobinische Bourgeoisie von 1793 ein Jahrzehnt später größtenteils zur bonapartistischen Bourgeoisie wurde, dass fast alle jakobinischen Kader, die politisch aktiv blieben, in die bonapartistische Bürokratie integriert wurden. Die anderen zogen sich einfach aus der Politik zurück.

Die Grundsätze der revolutionären Demokratie, die in der jakobinischen Verfassung von 1793 verankert waren, wurden nur von einer kleinen Anzahl extremer Linksradikaler wie Buonarroti weitergeführt. Buonarroti verdiente seinen Lebensunterhalt als Lehrer für Italienisch und Musik. Als er 1821, auf dem Höhepunkt der Metternichschen Reaktion, einem seiner Musikschüler gegenüber die Republik von ’93 lobte, schaute der junge Mann ihn an, als sei er verrückt geworden, und sagte: „Wer könnte heute noch hoffen, diese Art von Regierung wiederherzustellen?“ Buonarrotis Geschichte von Babeufs Verschwörung, die 1828 veröffentlicht wurde, war ebenfalls eine glühende Verteidigung des Robespierre-Regimes. Der alte Jakobiner behauptete sogar, dass Robespierre, wenn er Frankreich weiter regiert hätte, nach und nach kommunistische Institutionen eingeführt hätte.

Als nach der Revolution von 1830 eine neue revolutionäre Periode, eine neue revolutionäre Bewegung entstand, hatte sich der Begriff „Jakobiner“ zu einem Begriff entwickelt, der weitaus radikaler und proletarischer war als die Politik des Wohlfahrtsausschusses des Jahres II. Mit anderen Worten, der Begriff „Jakobiner“ war einfach ein Synonym für „Rote“. Hinter der Idealisierung der jakobinischen Republik durch die Kommunisten und die radikalen Arbeiter jener Zeit und hinter der Verteufelung der jakobinischen Republik durch die herrschenden Klassen jener Zeit stand eine wichtige historische Wahrheit.

In dieser Zeit war eine demokratische Republik mit der politischen Herrschaft der Bourgeoisie als Klasse nicht zu vereinbaren. Reaktionäre, Liberale und Radikale gingen davon aus, dass ein souveränes Parlament auf der Grundlage des allgemeinen Männerwahlrechts direkt zum Bürgerkrieg führen würde, wie es 1848 in Frankreich tatsächlich der Fall war. Das heißt, eine demokratische Republik wurde zwangsläufig als eine rote Republik angesehen, und es ist bezeichnend, dass das Kommunistische Manifest zum ersten Mal auf Englisch in der Chartistenzeitung The Red Republican veröffentlicht wurde. Blanqui brachte dies auf seine Weise auf den Punkt, als er etwas später sagte: Es gibt nur zwei wirkliche Parteien in Frankreich – die Kommunisten und die Priester. So glaubten Marx und Engels am Vorabend des Jahres 1848, dass eine demokratische Revolution, die Einführung einer demokratischen Verfassung wie der jakobinischen Verfassung von 1793, schnell zur Herrschaft des Proletariats und zur Enteignung der Bourgeoisie führen würde – direkt in England, wo die Mehrheit der Bevölkerung Proletarier waren, und indirekt in Frankreich und Deutschland, wo die Mehrheit aus ländlichen und städtischen Kleinbürgern bestand.

Der tatsächliche Verlauf der Revolutionen von 1848 unterschied sich stark von den Vorstellungen von Marx und Engels, wie sie später selbst erkannten. In Frankreich wählten die Bauernmassen im Rahmen des allgemeinen Wahlrechts eine reaktionäre Regierung, die die Pariser Arbeiterklasse in den so genannten Junitagen erst provozierte und dann niederschlug. Die Angst vor einer sozialen Revolution trieb die französische Bourgeoisie zum Bonapartismus und die deutsche Bourgeoisie zu einem Kompromiss mit der monarchischen Reaktion. So wurde erst eine Generation später, nach dem Debakel des Deutsch-Französischen Krieges, nach der Niederschlagung der Kommune, eine bürgerlich-demokratische Republik errichtet. (Übrigens wurden in Paris in nur einer Woche nach der Niederschlagung der Kommunarden 17000 Menschen umgebracht – ohne Prozess, ohne alles. Das nenne ich Terror!)

Erst in dieser Zeit begann die französische Bourgeoisie, die Französische Revolution als Geburtsstunde ihrer Macht zu feiern. Es waren die Historiker der Radikalen Partei der frühen Dritten Republik wie Avenel, Spulier und Aulard, die als erste die Französische Revolution und den Jakobinismus mit dem französischen Nationalismus und den liberalen Prinzipien gleichsetzten. In den 1870er Jahren kritisierte Avenel den konservativen deutschen Historiker Sybel für seine Behauptung, die Französische Revolution habe den Kommunismus begünstigt. Nein, sagte der französische Radikale, der Kommunismus ist eine Erfindung von euch Deutschen wie Karl Marx.

Dieser Austausch ist bezeichnend für die unterschiedlichen Haltungen auf beiden Seiten des Rheins. Außerhalb Frankreichs wurde die Revolution immer noch mit sozialem Radikalismus und Gleichmacherei gleichgesetzt. Innerhalb Frankreichs versuchte ein bedeutender Teil der Bourgeoisie, die Revolution von ihrem babouvistischen Erbe abzugrenzen. Erst in den Anfangsjahren der Dritten Republik wurde der Begriff „Jakobiner“ mit dem französischen Nationalismus, insbesondere dem antideutschen Nationalismus, gleichgesetzt. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs lobte der französische Reaktionär Poincaré Clemenceau: „Er hat in höchstem Maße eine nationale Ader und ist ein Patriot wie die Jakobiner von 1793.“ Aber eine bürgerliche Tendenz wie Clemenceaus Radikale war notwendigerweise nur in Frankreich zu finden.

Nach der Revolution von 1848 wurde die europäische Bourgeoisie – allen voran die deutsche – konterrevolutionär. Im Bismarckschen Deutschland, im späthabsburgischen Österreich, im spätbourbonischen Spanien – ganz zu schweigen vom zaristischen Russland – gab es keine bürgerlichen Kräfte, die die Französische Revolution lobten. Ganz im Gegenteil. In den 1890er Jahren, ein Jahrhundert nach der Französischen Revolution, stand ein preußischer Junker im Reichstag auf und erklärte, der König von Preußen müsse jedem Leutnant befehlen können, zehn Mann zu nehmen und den Reichstag zu beschießen. Diese Rede wurde von den rechten Reichstagsabgeordneten mit wildem Beifall aufgenommen.

Das Gespenst des Bolschewismus

So wurde das radikaldemokratische Erbe der Französischen Revolution in dieser Zeit fast ausschließlich von der internationalen Arbeiterbewegung übernommen. Analogien mit der Französischen Revolution waren im zaristischen Russland sowohl bei den Marxisten als auch bei den Volkstümlern besonders häufig anzutreffen, die sich einem Ancien Régime gegenübersahen, das dem spätbourbonischen Frankreich sehr ähnlich schien. Im Jahr 1900 schrieb Georgi Plechanow, der Vater des russischen Marxismus, an einen seiner Genossen: „Sie wissen, dass ich anfange, zum Jakobinismus zu neigen.“

Die bolschewistische Revolution erweckte in der Bourgeoisie weltweit das Verständnis dafür, dass die Französische Revolution auch eine radikale egalitäre Tradition mit sich gebracht hatte, dass die Französische Revolution wirklich eine Revolution war. Es sei daran erinnert, dass zwischen 1793 und 1918, als der russische Zar und seine Familie getötet wurden, kein einziger europäischer Monarch hingerichtet wurde. Allein diese Tatsache brachte die Französische und die Bolschewistische Revolution in den Köpfen sowohl der europäischen Herrscher als auch der Volksmassen zusammen.

Die antibolschewistische Hysterie ließ die ganze alte Feindseligkeit der europäischen Reaktion gegenüber der Französischen Revolution wieder aufleben, die als die Erbsünde angesehen wird, die dieses schreckliche Ereignis hervorgebracht hat. Hitlers Mein Kampf zum Beispiel prangerte die Französische Revolution als eine Katastrophe für Europa an. Aber natürlich spielte die französische Bourgeoisie, auch wenn sie weiterhin Lippenbekenntnisse zur Revolution abgab, eine Schlüsselrolle in der antibolschewistischen Kampagne. Französische Militärkader – darunter der junge Charles de Gaulle – unterstützten die polnischen Streitkräfte bei der Zurückdrängung der Roten Armee aus Warschau im Jahr 1920.

Die Isolation des bolschewistischen Russlands, seine Einkreisung durch feindliche und mächtigere kapitalistische Staaten, führte in Russland zu einer bürokratischen Degeneration, die Trotzki als analog zum Thermidor betrachtete. Das heißt, die revolutionären Führer wurden von einer Gruppe nationalistischer und konservativer Bürokraten gestürzt, aber die sozialen Errungenschaften der bolschewistischen Revolution – die Enteignung und Kollektivierung des Eigentums – blieben erhalten. Und dies ist natürlich die Grundlage für die Feindseligkeit des Weltkapitalismus gegenüber der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken bis zum heutigen Tag.30

Die Machtübernahme durch die Nazis in Deutschland stellte eine schreckliche Gefahr für die Sowjetunion dar. Die Stalinisten reagierten auf diese Gefahr, indem sie ein Bündnis mit den so genannten „demokratischen Imperialisten“ suchten, insbesondere in Frankreich und England. Man nannte dies die „Volksfront gegen den Faschismus“.31 Die französischen Stalinisten versuchten, den französischen Imperialismus unter dem Deckmantel des Jakobinismus zu verherrlichen. Um unsere Analogie zu verwenden, kann man die Volksfront in Frankreich als den Versuch der französischen Anhänger des russischen Thermidors beschreiben, sich mit den Erben der französischen thermidorianischen Bourgeoisie gegen die Erben von Babeuf zu verbünden.

Doch indem sie Mitte der 1930er Jahre dazu beitrugen, eine proletarische Revolution in Frankreich zu verhindern, und in Spanien tatsächlich eine proletarische Revolution unterdrückten, haben die Stalinisten den europäischen Faschismus nur ermutigt, begünstigt und gestärkt. Die Volksfront ebnete den Weg sowohl für das Vichy-Regime als auch für die Operation Barbarossa, den Überfall Nazi-Deutschlands auf Sowjetrussland. Um bei unserer Analogie zu bleiben: Man kann das Vichy-Regime als ein Bündnis der französischen Erben der thermidorianischen Bourgeoisie zusammen mit den Erben der französischen Emigranten und den Nachkommen des Prinzen von Braunschweig beschreiben.

Und man kann die Schlacht von Stalingrad als einen titanischen Kampf zwischen den russischen Erben der Französischen Revolution, wenn auch in ihrer bonapartistischen Form, und den Feinden der Französischen Revolution beschreiben. Und man möchte meinen, dass an diesem 200. Jahrestag der Französischen Revolution die Geister von Robespierre und Hebert und Jacques Roux und Babeuf nicht nur den Sturm auf die Bastille und den Sieg bei Valmy, sondern auch den Sieg in Stalingrad mit uns feiern werden, denn auch das ist in gewisser Weise ihr Sieg.

1792 erklärte Adrien Duport, Politiker der französischen bürgerlichen Verfassungspartei, dass die Französische Revolution vorbei sei. Acht Jahre später erklärte Napoleon mit etwas größerer Berechtigung, dass die Französische Revolution vorbei sei. Zweihundert Jahre später erklärt der liberale Ideologe Francois Furet, die Französische Revolution sei vorbei. Nun, als historisches Ereignis ist die Französische Revolution sicherlich vorbei – sie hat die Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution radikaler und vollständiger erfüllt als jede andere. Aber gerade deshalb ist sie mehr geworden als eine längst abgeschlossene Revolution – sie ist zum Symbol des Kampfes der Unterdrückten und Ausgebeuteten für eine gerechte und egalitäre Gesellschaft geworden. Und deshalb wird die Französische Revolution immer noch ausgefochten, und sie wird so lange ausgefochten werden, bis Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in einer kommunistischen Welt Wirklichkeit geworden sind.


  1. Nr. 484, 1. September 1989 und Nr. 486, 29. September 1989.

  2. Im Englischen einfach „Bastille Day“, also „Tag der Bastille“, genannt – E&P.

  3. Politiker der Sozialistischen Partei, von 1981 bis 1995 als französischer Staatspräsident Oberhaupt des kapitalistischen Staates – E&P.

  4. Reden von Robespierre, gehalten im Nationalconvent, Altona, 1794, S. 47f.

  5. Das Vaterland – E&P.

  6. Robespierre, Reden mit historischer Einleitung, Neuer Deutscher Verlag, Berlin, 1925, S. 50.

  7. Dt. Ausg.: Insel Taschenbuch (it 1033), Frankfurt/Main, 1987.

  8. Auch Schreckensherrschaft, Terrorherrschaft oder Terror genannt – von französisch „la Terreur“, „der Schrecken“ – E&P.

  9. „Der Jakobiner, der untrennbar verbunden ist mit der Organisation des Proletariats, das sich seiner Klasseninteressen bewußt geworden ist – das ist eben der revolutionäre Sozialdemokrat.“ Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, in Werke, Bd. 7, S. 386 – E&P.

  10. Von englisch „enclosures“ = „Einhegungen“ und „movement“ = „Bewegung“ – E&P.

  11. Vgl. Thomas Morus, Utopia, 1516 (Ausg. München, 1896, S. 37):

    „‚Eure Schafe‘, sagte ich, ‚die so sanft zu sein und so wenig zu fressen pflegten, haben angefangen so gefräßig und zügellos zu werden, daß sie die Menschen selbst auffressen und die Aecker, Häuser, Familienheime verwüsten und entvölkern. Denn in jenen Gegenden des Königreichs, wo feinere, daher theurere Wolle gezüchtet wird, sitzen die Adeligen und Prälaten, jedenfalls sehr fromme Männer, die sich mit den jährlichen Einkommen und Vortheilen nicht begnügen, die ihnen von ihren Voreltern aus den Landgütern zugefallen sind, nicht zufrieden, in freier Muße und im Vergnügen leben zu können, ohne dem Gemeinwohl zu nützen, dem sie sogar schaden; sie lassen dem Ackerbau keinen Boden übrig, legen überall Weideplätze an, reißen die Häuser nieder, zerstören die Städte und lassen nur die Kirchen stehen, um die Schafe darin einzustallen, und als ob euch die Wildgehege und Parke nicht schon genug Grund und Boden wegnähmen, verwandeln jene braven Männer alle Wohnungen und alles Angebaute in Einöden.“

  12. Auf Englisch zitiert in Christopher Hill, The Century of Revolution 1603–1714, W. W. Norton & Company, New York/London, 1961; unsere Übersetzung – E&P.

  13. Das fünfte Kapitel von Die Französische Revolution von François Furet und Denis Richet (dt. Ausg. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt/Main, 1968) trägt den Titel „Die Revolution kommt vom Wege ab“ – E&P.

  14. Zitiert in Albert Soboul, Die Große Französische Revolution – Ein Abriß der Geschichte (1789–1799), Athenäum-Verlag, Frankfurt/Main, 1988, S. 196.

  15. Johann Wolfgang von Goethe, „Campagne in Frankreich 1792“, in Werke, Hamburger Ausgabe von Erich Trunz, Bd. 10, München, 1994, S. 235.

  16. Zitiert in Albert Soboul, Die Große Französische Revolution, Athenäum-Verlag, Frankfurt/Main, 1988, S. 243.

  17. D.h. des Vaterlandes – E&P.

  18. Dt. Ausg. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt/Main, 1968.

  19. a.a.O., S. 265.

  20. „Gesetz über das ‚große‘ Maximum“, 29. September 1793, in Die Französische Revolution – Eine Dokumentation, hrsg. v. Walter Grab, Nymphenburger Verlagshandlung, München, 1973, S. 178.

  21. Rede Robespierres im Nationalkonvent über das Eigentum, 24. April 1793, in Die Französische Revolution – Eine Dokumentation, hrsg. v. Walter Grab, Nymphenburger Verlagshandlung, München, 1973, S. 141.

  22. ebd.

  23. a.a.O., S. 142.

  24. Die „Nachgiebigen“ – E&P.

  25. Die „Übertreibenden“ – E&P.

  26. Zu Deutsch: „das allgemeine Glück“, siehe z.B. Axel Kuhn, Die Französische Revolution, Reclam, 2018.

  27. Auf Englisch zitiert in R.B. Rose, Gracchus Babeuf, 1978; unsere Übersetzung – E&P.

  28. „Manifest der Kommunistischen Internationale an das Proletariat der ganzen Welt“, in Der I. Kongress der Kommunistischen Internationale. Protokoll der Verhandlungen, Verlag der Kommunistischen Internationale, Auslieferungsstelle für Deutschland: Carl Hoym Nachf. Louis Cahnbley, Hamburg, 1921, S. 181.

  29. Friedrich Engels, „Das Fest der Nationen in London“, in Marx/Engels, Werke, Bd. 2, S. 612f.

  30. Nach der konterrevolutionären Zerstörung der Sowjetunion und der deformierten Arbeiterstaaten Osteuropa 1989–92 besteht diese Feindschaft der Kapitalisten heute weiter gegenüber den verbliebenen deformierten Arbeiterstaaten China, Kuba, Laos, Nordkorea und Vietnam – E&P.

  31. Siehe z.B. den Bericht „Arbeiterklasse gegen Faschismus“ von Georgi Dimitroff auf dem VII. Weltkongreß der (stalinisierten) Kommunistischen Internationale vom 2. August 1935, veröffentlicht im Verlag Das Freie Buch GmbH, München, 1991, S. 48 – E&P.

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