Ergebnisse & Perspektiven des Marxismus

Kapitalistische Verschwörung in Europa – Die Arbeiterbewegung und der Gemeinsame Markt

Der unten folgende Artikel über den Vorläufer der imperialistischen Europäischen Union (EU) wurde 1973 in Workers Vanguard,1 der seit 2020 nicht mehr erschienenen Zeitung der Spartacist League/U.S., veröffentlicht.

SPD und Linkspartei und eine Vielzahl von Reformisten in ihrem Gefolge unterstützen die EU mehr oder weniger „kritisch“ als vermeintlich fortschrittlich gegenüber den kapitalistischen Nationalstaaten, aus denen sie besteht. In einem Flugblatt anlässlich der EU-Parlaments-Wahl 2019 erklärten wir dagegen: Die „EU [ist] ein instabiles Bündnis der deutschen Kapitalisten und der anderen Imperialisten Europas zur maximalen Ausbeutung der europäischen Arbeiter und zur besseren Konkurrenz gegen ihre imperialistischen Rivalen sowie das kapitalistische Russland und den bürokratisch deformierten Arbeiterstaat China.“2

Auch im Ukraine-Krieg zeigen sich die Widersprüche in den Interessen der einzelnen Imperialisten in EU und NATO. Der Krieg wurde vom kapitalistischen Russland als Verzweiflungstat gegenüber der ununterbrochenen Ostausweitung der imperialistischen Bündnisse NATO und EU begonnen. Als nicht-imperialistische kapitalistische Regionalmacht ist es zu schwach, um dieser Ausweitung auf ökonomischem oder nicht-militärischem Gebiet etwas entgegenzusetzen.3 Allen Imperialisten gemeinsam ist das strategische Ziel, den bürokratisch deformierten Arbeiterstaat China zu schwächen und letztlich dort eine Konterrevolution zur Wiedereinführung uneingeschränkter kapitalistischer Ausbeutung zu erreichen.4 Dabei nützt ihnen eine Ausweitung ihrer imperialistischen Bündnisse und eine Schwächung der Verbündeten Chinas, in dem Fall Russland. Aber darüber hinaus sind die Auswirkungen des Krieges widersprüchlich und nicht einheitlich: Der deutsche Imperialismus hat durch den Krieg und die (von ihm mitgetragenen) imperialistischen Sanktionen den Zugang zum billigen russischen Gas und Öl verloren, der jahrzehntelang eine wichtige Grundlage der Profitjagd der deutschen Kapitalisten war. Deutschlands imperialistische Durchdringung Osteuropas beruht vor allem auf seiner wirtschaftlichen, nicht einer militärischen Stärke, und dementsprechend ist die deutsche Bourgeoisie zurückhaltender als andere bei der Eskalation des Krieges in der Ukraine. Die USA hingegen haben durch den Krieg ihren wichtigsten Konkurrenten auf dem Gebiet der Öl- und Gaslieferung in Europa verdrängt und profitieren von ungekannten Möglichkeiten, teureres Fracking-Gas und -Öl abzusetzen.

Hinter dem Gezerre zwischen den Imperialisten über die Lieferung von Leopard- und Abrams-Kampfpanzern stecken auch ganz profane Profitinteressen der jeweiligen Rüstungsindustrien, wie schon in dem nachfolgenden Artikel von 1973 anklingt:

„Schon jetzt fürchten die nervöseren bürgerlichen Prognostiker in Europa die kommende US-amerikanische Wirtschaftsoffensive auf dem europäischen Markt (z.B. suchen die französischen Rüstungshersteller ein Abkommen mit ihren europäischen Wettbewerbern, um ein zu erwartendes US-amerikanisches Abladen neuer Waffen abzuwehren, nachdem der Vietnamkrieg weniger aufnimmt)…“

Die deutsche Regierung will vermeiden, dass die Lücken, die bei diversen europäischen Staaten durch Leopard-Lieferungen in die Ukraine entstehen würden, durch Abrams-Panzer aus den USA (oder K2 aus Südkorea) gefüllt werden, wodurch diese Länder langfristig der deutschen Rüstungsindustrie als Absatzmärkte verloren gehen könnten.5

Diese unterschiedliche Interessenlage des deutschen und des US-Imperialismus ist die Basis für sozialdemokratische Alternativstrategien für das imperialistische Deutschland, die im Namen des „Friedens“ auf mehr Kooperation mit dem kapitalistischen Russland setzen, wie sie – seit dem Ukraine-Krieg zaghafter – von Teilen der SPD und der Linkspartei, wie etwa Oskar Lafontaine und Sarah Wagenknecht, vertreten werden. Wie wir in unserem Flugblatt ausführten:

„Die Sozialdemokratie – SPD, Linkspartei sowie die mit ihnen verbundenen Gewerkschaftsführungen – erziehen die Arbeiter in dem Irrglauben, der Kapitalismus wäre doch reformierbar oder es gäbe ein ‚kleineres Übel‘, das unterstützt werden müsste. Das führt zu Passivität und hemmt das Bewusstsein der Arbeiter über ihre eigenen Interessen und ihre potentielle Macht als Klasse. SPD und Linkspartei sind oft effektiver als offen bürgerliche Parteien, um Angriffe auf die Arbeiterklasse und die ganze Bevölkerung auszuführen – siehe Hartz-IV, Agenda 2010 oder die diversen Landesregierungen mit SPD- und oder Linkspartei-Beteiligung…“

Die Arbeiterklasse muss von diesen bürgerlichen Arbeiterparteien weg und für den Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei gewonnen werden.

* * *

Die Niederlage des Referendums über den Gemeinsamen Markt in Norwegen ist ein Sieg für die internationale Arbeiterklasse. In ganz Europa ist die EWG6 bei den arbeitenden Massen zutiefst unpopulär, die sie zu Recht als ein Instrument zur Lösung der akuten wirtschaftlichen Probleme der Monopole auf Kosten der Ausgebeuteten betrachten. Diese Feindseligkeit hätte den bürgerlichen Gemeinsamen Markt längst zerstört und den Weg zu einer vereinten revolutionären Mobilisierung der europäischen Arbeiterklasse geebnet, wenn sie auf politischer Ebene von den dominierenden Arbeiterparteien klar zum Ausdruck gebracht worden wäre. Die Handlanger der Bourgeoisie, die die Kommunistischen, Sozialistischen und die sozialdemokratischen Arbeiterparteien Westeuropas führen, haben es jedoch geschafft, die Ablehnung der EWG durch die Massen in jedem entscheidenden Punkt zu verdrehen, zu verschleiern oder einfach zu ignorieren. So ist der Kampf gegen den Gemeinsamen Markt der Bosse, für ein vereintes sozialistisches Europa, gleichzeitig ein entschlossener Kampf gegen diese verräterischen falschen Führer der Arbeiterklasse.

Der Club der reichen Männer

Da Marxisten allgemein die internationale Verflechtung des Kapitalismus als materielle Grundlage für den Sozialismus betrachtet haben, ist es vielleicht nicht offensichtlich, warum die Zerstörung des Gemeinsamen Marktes ein Hauptziel der europäischen Arbeiter- und sozialistischen Bewegungen sein sollte. In der imperialistischen Ära richten sich Bündnisse zwischen kapitalistischen Staaten, einschließlich ihrer wirtschaftlichen Aspekte, gegen andere Staaten, sowohl fortgeschrittene als auch rückständige Staaten. Der Gemeinsame Markt ist im Wesentlichen ein instabiles Bündnis zwischen dem französischen und dem deutschen Kapitalismus auf der Grundlage einer äußerst reaktionären Wirtschaftspolitik. Die Handelspolitik des Gemeinsamen Marktes ist in hohem Maße protektionistisch, insbesondere indem sie die rückständige französische und italienische Industrie vor den Importen aus rückständigen Ländern schützt. Während in den USA 25% des Textil- und Bekleidungsverbrauchs aus rückständigen Ländern importiert werden, sind es im Gemeinsamen Markt weniger als 10% des Verbrauchs. Und die Textilindustrie ist für die rückständigen Länder ein wichtiger Wirtschaftszweig, einer der wenigen, die mit den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern konkurrieren können.

Eine wichtige „Errungenschaft“ des Gemeinsamen Marktes ist die Gemeinsame Agrarpolitik, die durch und durch reaktionär ist. Die Gemeinsame Agrarpolitik soll den großen europäischen Getreideproduzenten zugute kommen, vor allem den Franzosen, die die Reste der europäischen Bauernschaft für ihre Sache gewonnen haben, und bedeutet künstlich hohe Lebensmittelpreise, die durch staatliche Subventionen und undurchdringliche Zölle gestützt werden. So waren die Lebensmittelpreise innerhalb des Gemeinsamen Marktes in der Regel 50% höher als in Großbritannien, obwohl das Land den größten Teil seiner Lebensmittel importiert. Die Anpassung an die Gemeinsame Agrarpolitik war die wichtigste Einzelursache für die derzeit grassierende Inflation in Großbritannien.

Der Gemeinsame Markt ist ein Plan für die wirtschaftliche Integration Westeuropas auf ausdrücklich kapitalistischer Grundlage. Artikel 52 der grundlegenden Römischen Verträge fordert die „Niederlassungsfreiheit“7 und das Recht zur „Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten“.8 In Artikel 67 wird die Abschaffung der „Beschränkungen des Kapitalverkehrs“9 gefordert. Jede Arbeiterpartei, die das Abkommen über den Gemeinsamen Markt unterzeichnet oder befürwortet, verpflichtet sich ausdrücklich zur Aufrechterhaltung eines kapitalistischen Wirtschaftssystems. Mit der Zustimmung der britischen Labour Party zum Gemeinsamen Markt gelang es dem rechten Flügel der Labour Party schließlich, die berühmte (in der revolutionären Flut von 1917 angenommene) Klausel IV der Labour-Party-Satzung faktisch außer Kraft zu setzen, in der die Verstaatlichung der Schlüsselsektoren der britischen Wirtschaft gefordert wurde.

Eine Arbeiterrevolution oder sogar eine ausreichend linke reformistische Regierung im Kapitalismus würde mit massiven wirtschaftlichen Vergeltungsmaßnahmen seitens des übrigen Gemeinsamen Marktes rechnen müssen. Es stimmt natürlich, dass jede antikapitalistische oder sogar reformistische Regierung internationalen kapitalistischen Repressalien ausgesetzt ist. Durch den Beitritt zum Gemeinsamen Markt bindet eine Nation jedoch ihre Wirtschaftsstruktur enger an die anderen kapitalistischen Mitgliedsstaaten und fördert ausländische Investitionen, wodurch sie anfälliger für die internationale kapitalistische Reaktion wird.

Brüchige Partnerschaft

Der Gemeinsame Markt beruht auf der Vereinbarung zwischen den Vertragsparteien, ihre Ausbeutung und Ausplünderung gemeinsam vorzunehmen, solange die derzeitige Expansionswelle für alle Beteiligten anhält. Sobald jedoch eine oder mehrere der beteiligten Kapitalistenklassen unter den Auswirkungen des Freihandelswettbewerbs mit den anderen zu leiden beginnen, wird das gesamte Gebäude zusammenbrechen und der protektionistische Nationalismus wird wieder aufleben.

Schon jetzt fürchten die nervöseren bürgerlichen Prognostiker in Europa die kommende US-amerikanische Wirtschaftsoffensive auf dem europäischen Markt (z.B. suchen die französischen Rüstungshersteller ein Abkommen mit ihren europäischen Wettbewerbern, um ein zu erwartendes US-amerikanisches Abladen neuer Waffen abzuwehren, nachdem der Vietnamkrieg weniger aufnimmt) und den zunehmenden Wettbewerb um schrumpfende Märkte zwischen den europäischen „Partnern“ selbst, der unweigerlich zu neuen Krisen führt. Dieser Prozess wird das Basarzelt des Gemeinsamen Marktes zum Einsturz bringen, zusammen mit einem allgemeinen Einbrechen der Wirtschaft und einer Verschärfung des Klassenkampfes. Im weiteren Verlauf der Krise werden es dieselben sozialdemokratischen Parteien und ihre KP-Verbündeten sein, die die letzte Bastion zur Verteidigung der kapitalistischen Ordnung als solcher bilden werden, wie es die KP 1968 in Frankreich war. In Anerkennung des doppelten Charakters dieser Parteien als Arbeiterparteien mit bürgerlichen Führungen muss die revolutionäre Avantgarde jede Gelegenheit nutzen, um die Basis gegen die Führung aufzubringen und eine gnadenlose Kritik am Ausverkauf dieser falschen Führer der Arbeiterklasse zu üben.

Der US-Imperialismus und der Gemeinsame Markt

Die beiden politischen Grundlagen für die Existenz des Gemeinsamen Marktes waren der Wunsch der USA, die westeuropäische Einheit gegenüber der Sowjetunion zu stärken, und der Wunsch der französischen herrschenden Klasse, von der politischen Schwäche Deutschlands infolge seiner Niederlage im Zweiten Weltkrieg zu profitieren. Während der Gemeinsame Markt US-Investitionen in Westeuropa erleichterte, beruhte die Unterstützung der US-amerikanischen Regierung für den Gemeinsamen Markt auf strategischen politischen Überlegungen. Die US-amerikanische herrschende Klasse wollte diesen historischen wirtschaftlichen Konflikt zwischen den europäischen Mächten unterdrücken, weil sie befürchtete, dass er das Militärbündnis gegen die Sowjetunion stören würde. John F. Kennedy sagte dies ganz offen:

„Der Erfolg unserer Außenpolitik hängt weitgehend von dem Erfolg unseres Außenhandels ab, und die Wahrung der politischen Einheit des Westens hängt ebenso weitgehend von dem Ausmaß der wirtschaftlichen Einheit des Westens ab.“10

In seiner Anfangszeit war der Gemeinsame Markt in hohem Maße Teil des US-amerikanisch dominierten Europas. So konnte Walter Hallstein, der damalige Leiter der EWG-Kommission und ehemalige westdeutsche Außenminister, der die diplomatische Isolierung der DDR eingefädelt hatte, 1962 einer Gruppe von NATO-Parlamentariern erzählen:

„Die europäische Integration beschränkt sich gegenwärtig auf wirtschaftliche Fragen, kann aber einen wichtigen politischen Beitrag zur Stärkung der Freien Welt leisten. Dies und nicht eine gemeinsame Verbundenheit mit dem ‚Imperialismus‘, wie Premier Chruschtschow behauptet, ist die wahre Verbindung zwischen EWG und NATO.“11

Im Laufe der Zeit hat die politische Unterstützung der USA (einschließlich der Unterstützung für den britischen Beitritt) nachgelassen, während ihr Widerstand gegen die Wirtschaftspolitik des Gemeinsamen Marktes zugenommen hat. Dafür gibt es mehrere Gründe, allen voran das Erstarken der europäischen Imperialisten als wirtschaftliche Rivalen der USA. Nachdem die USA 1947–48 beschlossen hatten, Europa und Japan wieder auf die Beine zu stellen, um das Bündnis des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion zu schmieden und den Kapitalismus zu bewahren, sehen sie sich nun mit dem Verlust ihrer hegemonialen Stellung als dominierende imperialistische Macht konfrontiert. Stattdessen sind sie nur noch die stärkste unter vielen rivalisierenden Imperialismen. Dies spiegelt sich in der Verschiebung des Welthandels in der Nachkriegszeit wider. Zwischen 1947 und 1965 sank der Anteil der USA (und Kanadas) am Welthandel von 27% auf 18%, während der Anteil Westeuropas insgesamt von 34% auf über 40% anstieg (diese Zahlen werden durch die Tatsache relativiert, dass der Außenhandel für die Volkswirtschaften der europäischen Länder wichtiger ist als für die USA).

Doch während sich Europa erholte, setzten die USA ihre anfänglichen umfangreichen Investitionen in die europäische Industrie fort, wobei ihre Kapitalanlagen von 4 Milliarden Dollar im Jahr 195812 auf 14 Milliarden Dollar im Jahr 196513 anstiegen. Die von Johnson 1965 verhängten Beschränkungen des Kapitalexports kehrten diesen Trend nicht um, sondern verstärkten die Tendenz der US-Kapitalisten, ihre Unternehmungen auf dem europäischen Geldmarkt zu finanzieren.14 Zum Teil als Reaktion auf die US-amerikanische Investitionsinvasion verfolgte das gaullistische Frankreich eine halbneutralistische Außenpolitik, die auch einen Rückzug aus der NATO beinhaltete. Johnsons Maßnahme von 1965 war ein teilweises Zugeständnis an Frankreich, aber im Allgemeinen ist der US-Kapitalismus immer weniger in der Lage, kurzfristige wirtschaftliche Opfer zu bringen, um langfristige strategische Ziele zu erreichen.

Herausforderung für die USA

Die USA haben einen im Grunde genommen erfolglosen Kampf geführt, um die Ausweitung des kommerziellen Einflussbereichs des Gemeinsamen Marktes durch Zollmanipulationen zu verhindern. Nach und nach wurde die von den USA dominierte Freihandelszone im Rahmen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) ausgehöhlt, da der Gemeinsame Markt ein eigenes Gebiet mit Sonderabkommen geschaffen hat, das sich vor allem auf die ehemaligen Kolonien der europäischen Länder stützt. Die derzeitige französische Kampagne, den Mittelmeerraum in einen See des Gemeinsamen Marktes zu verwandeln, ist wahrscheinlich zu ehrgeizig, auch weil sie eine direkte Herausforderung für die Außenwirtschaftspolitik der USA darstellt. Die Ausbreitung von vorrangigen Handels- und Assoziierungsabkommen, die mit 18 ehemaligen afrikanischen Kolonien, vor allem französischen (Abkommen von Yaoundé), begann und nun die meisten Mittelmeerländer und einige karibische Länder einbezieht, verärgert die US-Kapitalisten vor allem deshalb, weil diese Abkommen dazu neigen, europäische Kapitalinvestitionen ebenso wie den europäischen Handel zu begünstigen, und weil sie sich über die „traditionellen“ imperialistischen Einflusssphären der europäischen Länder hinaus erstrecken: d.h. die „Sechs“ des Gemeinsamen Marktes wildern ein bisschen in dem, was die USA als „ihr“ Gebiet betrachten. Wenn diese Abkommen erfolgreich sind, würden sie das GATT zerstören und den Niedergang des US-amerikanischen Imperiums weiter vorantreiben. „Wenn die EWG so weitermacht“, sagte ein Handelsexperte der Nixon-Administration, „werden sie ein System haben, das effektiv jeden Wettbewerb mit den USA und Japan ausschließt.“15

In diesem Zusammenhang stehen die Gespräche über die europäische Sicherheit, die sich in Helsinki bereits in einem Vorstadium befinden, die Gespräche über die strategische Rüstungsbegrenzung und die ausgewogene Truppenreduzierung (SALT und MBFR) sowie die im nächsten Sommer geplante Reise Nixons nach Europa zu Handelsgesprächen. Mit diesen Verhandlungen versucht die Nixon-Administration, ihre westlichen „Verbündeten“ gegen die stalinistisch deformierten Arbeiterstaaten auszuspielen, indem sie die beträchtliche relative Überlegenheit nutzt, die der US-Kapitalismus noch immer genießt. Diese relative Überlegenheit, die vor allem in den größeren Ausmaßen, Ressourcen und der technischen Überlegenheit der US-Konzerne liegt, wird es den USA ermöglichen, massiver und schneller als ihre Rivalen in den sich neu öffnenden Markt in der Sowjetunion und den osteuropäischen deformierten Arbeiterstaaten einzudringen. Die europäischen Kapitalisten haben bereits panische Visionen von US-Automobilen, die mit billigen Arbeitskräften in Osteuropa hergestellt werden und die westeuropäischen Märkte überschwemmen. Kurz nach dem riesigen Weizengeschäft, das allein den sowjetisch-amerikanischen Handel vervierfachte (auf etwa 1 Milliarde Dollar),16 kündigten die USA eine bevorstehende Einigung über ein anderes Geschäft an, das selbst dieses in den Schatten stellte: Drei US-Unternehmen würden ein 10-Milliarden-Dollar-Erdgasleitungssystem17 bauen, um Erdgas im Wert von 45 Milliarden Dollar18 aus Sibirien zu transportieren.

Die USA werden versuchen, die westeuropäischen Bourgeoisien durch ein begrenztes Drohen mit US-amerikanisch-sowjetischer Zusammenarbeit dazu zu erpressen, den USA günstigere Handelsbedingungen zu gewähren. Die US-Verhandlungsführer bei den Rüstungsgesprächen, insbesondere der MBFR, sind in einer guten Position, um durch einen umfassenden Abzug der US-Truppen, den die europäischen Machthaber ablehnen, ein für die Sowjetunion günstiges Gleichgewicht der militärischen Kräfte in Europa zu gewährleisten. Dass die Konferenz über europäische Sicherheit überhaupt stattfindet, wird als eine Art diplomatischer Sieg für die UdSSR angesehen, die diese Konferenz seit Jahren gefordert hat, obwohl sie in erster Linie dem kapitalistischen Streben nach der Erschließung neuer Märkte geschuldet ist. Die USA werden ihre diplomatische Keule schwingen, um den europäischen Kapitalisten Zugeständnisse abzuringen, ohne der Sowjetunion einen qualitativen Sieg zu bescheren.

Frankreich gegen Deutschland

Neben dem ursprünglichen großen Plan der USA ist der Gemeinsame Markt ein Produkt des Versuchs der französischen Bourgeoisie, die Diskrepanz zwischen der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands und seiner politischen und militärischen Schwäche auszunutzen. Der Vorläufer des Gemeinsamen Marktes, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl,19 geht auf die Besetzung des Stahlkomplexes im Ruhrgebiet durch die Alliierten zurück. Es besteht kein Zweifel daran, dass die französische Bourgeoisie dagegen gewesen wäre, den Komplex in die direkte deutsche Oberhoheit zurückzuführen. In gewisser Weise ist die Gemeinsame Agrarpolitik eine Subvention für einen Teil des französischen Kapitals, was an die Reparationszahlungen von Versailles erinnert, die nach dem Ersten Weltkrieg Deutschland abverlangt wurden.

Seit den fünfziger Jahren hat die deutsche Wirtschaftskraft jedoch allmählich die Auswirkungen der Niederlage im Zweiten Weltkrieg überwunden. Das Gleichgewicht der Kräfte im Gemeinsamen Markt hat sich langsam, aber deutlich zu Ungunsten Frankreichs verschoben. Der britische Beitritt markiert einen Teilsieg Deutschlands über Frankreich. Die Zerbrechlichkeit des deutsch-französischen Wirtschaftsbündnisses zeigte sich deutlich während der internationalen Währungskrise 1971, die das utopische Projekt eines einheitlichen westeuropäischen Währungssystems zerstörte. Die Deutschen werteten einseitig die Mark auf und zwangen die Franzosen, den Franc abzuwerten. Damit wurde deutlich, dass die Vereinbarungen des Gemeinsamen Marktes weniger wert sind als das Papier, auf dem sie gedruckt sind, wenn die grundlegenden Interessen der Mitgliedstaaten im Widerspruch zueinander stehen.

Reformistischer Verrat

Es gibt nur wenige aussagekräftigere Beweise für die verkommene reformistische Führung der westeuropäischen Arbeiterbewegungen als ihr Versagen im Kampf gegen den Gemeinsamen Markt. Während die Kommunistischen Parteien Frankreichs und Italiens in den ersten Jahren des Gemeinsamen Marktes diesen rituell anprangerten, mobilisierten sie nie ihre Massenbasis gegen ihn. Und parallel zur sowjetischen Unterstützung des Neutralismus gaullistischer Prägung haben die westeuropäischen Stalinisten eine Haltung der wohlwollenden Neutralität gegenüber dem Gemeinsamen Markt eingenommen. Auf den sozialdemokratischen Arbeiterparteien Europas ruht viel Vertrauen, die Arbeiterklasse an der Nase herumzuführen.

In Dänemark gelang es den Sozialdemokraten, ein „Ja“ für den Beitritt zum Gemeinsamen Markt zu erreichen, allerdings nur um den Preis, dass der Kern ihrer Arbeiterbasis der Partei den Rücken kehrte. Ein Gewerkschaftsbürokrat wurde daraufhin als Ministerpräsident eingesetzt, um eine Vertiefung dieser Spaltung zu verhindern und die Arbeiterbewegung stärker der Regierungspolitik unterzuordnen.

In Deutschland war die Wahl zwischen [Willy] Brandt von der Sozialdemokratischen Partei (SPD) und [Rainer] Barzel, dem Hexenjäger und Antikommunisten von den Christdemokraten (CDU-CSU), ein wichtiger Test für die Strategie der USA und Deutschlands und die Politik des Gemeinsamen Marktes. Brandt kandidierte mit seinem Vorhaben der Öffnung der Beziehungen zum Osten: Ostpolitik. Mit ein wenig Hilfe der Sowjetunion und der Ostdeutschen, die kurz vor den Wahlen neue Zugeständnisse machten, gewann Brandt souverän und sicherte sich (zusammen mit den kleinen bürgerlichen Freien Demokraten [FDP]) die für die Verabschiedung seiner Verträge erforderliche parlamentarische Mehrheit. Die Wahl Brandts war kein Linksruck, sondern lediglich eine Bestätigung der Pläne der deutschen Bourgeoisie, wieder in ihre alten Märkte in Osteuropa einzudringen, dieses Mal durch Abkommen mit den stalinistischen Bürokraten, die verzweifelt nach kapitalistischem Handel, Technologie und sogar Kapitalinvestitionen suchen. Die Wahl bestätigte auch die Partnerschaft der deutschen herrschenden Klasse mit den USA, in der die deutsche Mark mehrmals aufgewertet wurde (eine Einbuße ihrer Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt) und der Dollar, im Austausch für die Unterstützung der Ostpolitik durch die USA, gestützt wurde.

Die deutschen Arbeiter zahlen jedoch für diese Partnerschaft und die wirtschaftliche Expansion mit einer sehr starken Inflation. Westdeutschland hat die höchste Inflationsrate in Europa, die allein in den drei Jahren von Brandts Amtszeit von 2,7% auf 6,4% gestiegen ist. (Die Länder des Gemeinsamen Marktes haben im Allgemeinen hohe Inflationsraten im Vergleich zu den USA – Frankreich: 6%, USA: 3%.) Barzel griff die Inflation an, unterstützte aber dieselbe grundlegende Politik, so dass seine Kritik gegenstandslos wurde. Brandt gewann die Unterstützung der Arbeiterklasse, indem er den Anschein erweckte, sich nach links zu bewegen, weg von der Hysterie des Kalten Krieges, die von Barzel vertreten wurde (dessen politische Geschichte der von Nixon verblüffend ähnlich ist). Die Bourgeoisie hielt entschlossen zu Brandt (mit Ausnahme des rechten Flügels, der von Barzels wichtigstem Verbündeten, Franz Josef Strauß, vertreten wurde), weil die SPD ihre Fähigkeit bewiesen hatte, die Forderungen der Arbeiter mit Hilfe der Gewerkschaften, auf die sich die SPD stützt, zu bändigen. Wäre Barzel bei anhaltender Inflation gewählt worden, hätten die Gewerkschaftsbürokraten keine gute Ausrede gehabt, um die Lohn- und sonstigen Forderungen der Arbeiter weiterhin niederzuhalten.

Britische Arbeiter und der Beitritt

Am heftigsten war die Auseinandersetzung zwischen der Arbeiterbewegung und dem Gemeinsamen Markt jedoch in Britannien. Jeder Versuch, die Politik der Labour Party in Bezug auf den Beitritt zum Gemeinsamen Markt zu verstehen, muss von der Tatsache ausgehen, dass die Opposition der Wilson-Führung [der Labour Party] gegen den Beitritt völlig verlogen ist. Die Wilson-Führung ist dem britischen Beitritt ebenso verpflichtet wie die Konservative Partei und hat alles getan, um Britannien in den Markt zu bringen, während die Labour Party an der Macht war. Tatsächlich werfen marktfreundliche Labour-Politiker Wilson regelmäßig vor, dass er es war, der sie überhaupt erst für den britischen Beitritt gewonnen hat. Die Wilson-Führung sprach sich erst gegen den Beitritt zum Gemeinsamen Markt aus, nachdem sie abgewählt worden war, d.h. als die Labour Party sich in Worten gegen den Beitritt aussprechen konnte, ohne ihn in der Praxis zu beeinflussen. Wilsons „Opposition“ gegen den Beitritt zum Gemeinsamen Markt zielt einzig und allein darauf ab, die während der Regierungszeit der Labour Party verlorene Popularität zurückzugewinnen und zu verhindern, dass die Anti-Markt-Kampagne von der Labour-Linken und den Roten dominiert wird. (Eine Meinungsumfrage von 1971 ergab, dass 73% der britischen Bevölkerung gegen einen Beitritt zur EWG waren.) Selbst jetzt ist die Wilson-Führung darauf bedacht, dass die Labour-„Opposition“ keine echte Bedrohung für den britischen Beitritt darstellt. Während der Trades Union Congress (TUC)20 für eine grundsätzliche Ablehnung des Beitritts stimmte, setzte die Wilson-Benn-Führung auf dem letzten Labour-Parteitag eine Resolution durch, die lediglich eine Neuverhandlung der Beitrittsbedingungen vorsah.

Doch das war diesen Verrätern nicht genug. Als der marktfreundliche Flügel der Labour Party unter der Führung von Roy Jenkins damit drohte, bei der Abstimmung über den Beitritt im Oktober 1971 im Unterhaus die Parteidisziplin zu brechen, stimmte Wilson dem im Austausch für das Versprechen zu, die Parteiführung bei einem späteren Filibuster21 gegen die spezifische Gesetzgebung zur Umsetzung des Beitritts zu unterstützen. Als dann im vergangenen März das Filibuster stattfand, waren zahlreiche Labour-Abgeordnete, darunter mehrere Parteiführer, bei der Abstimmung bequemerweise nicht anwesend, was zum Scheitern des Manövers führte.

Der TUC-Beschluss, der den Beitritt zum Markt aus Prinzip ablehnt, ist ein Sieg für die britische Arbeiterklasse, allerdings ein hohler. Die Führung der britischen Arbeiterbewegung hat eine Geschichte, in der sie auf Konferenzen edel klingende sozialistische Beschlüsse unterstützte und sie dann ignorierte (der Beschluss des Labour-Parteitags von 1959 zugunsten einer einseitigen nuklearen Abrüstung ist ein klassisches Beispiel). Die Führung der britischen Gewerkschaften muss gezwungen werden, für ihre „Prinzipien“ einzutreten. Die britische Arbeiterklasse hat gezeigt, dass sie in der Lage ist, den parlamentarischen Kretinismus zu überwinden und zum Arbeitskampf zu greifen, wenn ihre grundlegenden Interessen angegriffen werden: Der Beitritt zum Gemeinsamen Markt ist ein grundlegender Angriff auf die britische Arbeiterklasse; die Gewerkschaften sollten dem britischen Beitritt mit einem Generalstreik begegnen. Durch die Forderung nach einer Senkung der Lebensmittelpreise auf das Niveau vor dem Marktbeitritt kann die britische Arbeiterbewegung den Gemeinsamen Markt an seinem schwächsten Punkt angreifen und eine breite Unterstützung der Bevölkerung für einen Streik gegen den Markt gewinnen.

Französische KP verteidigt das Vaterland

Die französische KP lieferte ein nahezu identisches Beispiel für eine Scheinopposition, der sie eine typisch stalinistische „theoretische“ Erklärung hinzufügte. Angesichts eines überraschenden Referendums über die Erweiterung des Gemeinsamen Marktes durch Pompidou22 rief die KP-Führung zu einer kämpferisch klingenden Kampagne mit dem Slogan „Nein zum Europa der Konzerne“ auf. Allerdings befand sich die KP mitten in Verhandlungen über ein Wahlbündnis mit den Führern der Sozialistischen Partei, die seit Jahren die EWG im Allgemeinen und den britischen Beitritt im Besonderen befürwortet hatten. Anstatt sich in dieser entscheidenden Klassenfrage zu streiten, willigte die KP ein, die SP zur Stimmenthaltung aufrufen zu lassen, während sie ihre eigenen Anhänger formell dazu aufrief, mit „Nein“ zu stimmen. Einen Monat später unterzeichnete sie das gemeinsame Volksfrontprogramm mit der SP, wobei die Frage der EWG natürlich ungelöst blieb.

Noch interessanter ist die Begründung der KP für ihr zögerliches „Nein-Votum. Es scheint, dass die Ausweitung des Gemeinsamen Marktes einer der „gefährlichen Aspekte“ (etwa im Gegensatz zu den „positiven Aspekten“?!) der Außenpolitik von Pompidou ist, weil sie „der Unabhängigkeit und den nationalen Interessen zuwiderläuft. Damit niemand denkt, dass die KP irgendeinen Rest von leninistischem proletarischem Internationalismus bewahrt, erklärt sie:

„Die europäischen Konzeptionen der Kommunistischen Partei Frankreichs versuchen, wie jede verantwortungsvolle Politik, die die nationalen Interessen Frankreichs betrifft, ... die wissenschaftlichen Mittel und Wege zu einer echten nationalen Unabhängigkeit zu bestimmen. Wir beziehen uns auf die These des Kommunistischen Manifests, in der Marx darauf hinweist, dass der Befreiungskampf der Arbeiter im nationalen Rahmen beginnt.... Die Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus stellten sich gegen den nationalen Nihilismus. Für sie ist das Vaterland ein mächtiger Faktor in dem vom Proletariat geführten Klassenkampf. 23

Dies ist ein grundlegender Verrat an den elementarsten Prinzipien des Marxismus, ein Verrat, der allen Stalinisten gemein ist, die versuchen, sich den „fortschrittlichen Sektoren“ der Bourgeoisie anzupassen. Im Kommunistischen Manifest schrieben Marx und Engels: „Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler.“24 Um ihre Aussage noch deutlicher zu machen, erklären sie: „Die Arbeiter haben kein Vaterland.“25 Nicht reaktionärer französischer Chauvinismus (oder irgendein anderer Nationalismus), sondern revolutionärer Internationalismus ist die einzige Grundlage für einen konsequenten Widerstand der Arbeiterklasse gegen den bürgerlichen Gemeinsamen Markt. Die Position der KP ist eine direkte Widerspiegelung der Klasseninteressen der wohlhabenderen Teile des Kleinbürgertums, die sich durch die Vorherrschaft der großen Konzerne bedroht fühlen und den nationalen Protektionismus für ihre Unternehmen brauchen. Die KP stellt klar, dass sie den Gemeinsamen Markt nicht aus Prinzip ablehnt: „Die Feindseligkeit [der KP] gegenüber den Römischen Verträgen ... wird natürlich von einer positiven Alternative begleitet: .... Die Ablehnung der imperialistischen Integration und der supranationalen Institutionen erfordert notwendigerweise ... eine Revision mit dem Ziel der Demokratisierung der EWG, in der die Arbeiter und die demokratischen Formationen mit echten Rechten vertreten sein müssen.“ Die Position der KP ist nicht „Nieder mit dem Gemeinsamen Markt der Bosse, sondern für einen kleinbürgerlichen Gemeinsamen Markt!

Dieser Verrat in einer grundlegenden Klassenfrage ist natürlich typisch für den internationalen Stalinismus seit seinen Anfängen. Es war Stalin selbst, der die Losung „Vereinigte Sowjetstaaten von Europa“ als trotzkistische Position brandmarkte.26 Dies führte auf natürliche Weise zur Position der französischen KP zur „Verteidigung des Vaterlandes“ im Zweiten Weltkrieg, zur Weigerung der westeuropäischen KPen, sich in den Nachkriegsjahren dem Marshallplan zu widersetzen, zur Unterstützung des französischen Kolonialismus in Algerien durch die französische KP und zur jüngsten Erklärung von Enrico Berlinguer, dem Vorsitzenden der italienischen KP, dass es nicht notwendig sei, den sofortigen Austritt aus der NATO zu fordern! Es ist dieselbe Logik, die die reformistischen Sozialdemokraten in der ganzen Welt dazu brachte, ihre eigenen Bourgeoisien im Ersten Weltkrieg zu unterstützen – die Logik der Klassenkollaboration.

Zerschlagt den gemeinsamen Markt der Bosse!

Sowohl der Impuls zu supranationalen kapitalistischen Institutionen als auch der zum proletarischen Internationalismus haben eine gemeinsame objektive Grundlage – dass der Nationalstaat heute ein Hindernis für die Ausweitung der Produktion darstellt. Daher ist es für die sozialistische Bewegung eine Frage von grundlegender Bedeutung, ob der Kapitalismus seine nationalen Beschränkungen überwinden kann oder ob diese Beschränkungen unweigerlich zu einem imperialistischen Krieg führen müssen, mit der konkreten Möglichkeit der Vernichtung der menschlichen Rasse. Als diese Frage in der Zweiten Internationale entscheidende politische Bedeutung für die sozialistische Bewegung erlangte, beantwortete Kautsky sie mit der Theorie des Ultraimperialismus. Die Theorie des Ultraimperialismus sah die friedliche Integration der internationalen Monopole vor, die zur Schaffung einer echten internationalen Bourgeoisie und eines effektiven (kapitalistischen) Weltstaatssystems führen sollte:

„Kann die gegenwärtige imperialistische Politik nicht durch eine neue, ultra-imperialistische Politik ersetzt werden, die anstelle der gegenseitigen Rivalitäten des nationalen Finanzkapitals die gemeinsame Ausbeutung der Welt durch das international vereinigte Finanzkapital vorsieht? Eine solche neue Phase des Kapitalismus ist auf jeden Fall möglich.

Für Kautsky bestand die Rolle der proletarisch-sozialistischen Bewegung darin, als Druckmittel gegenüber den fortschrittlicheren, weitsichtigeren Teilen der Bourgeoisie zu wirken. Das Konzept des Ultraimperialismus bildete die theoretische Grundlage für Kautskys pazifistisch-reformistische Politik gegenüber dem interimperialistischen Krieg. Lenin verglich Kautskys Auffassung mit der des englischen Liberalen J.A. Hobson, der die englische Mittelklasse nach der Erschöpfung durch den Burenkrieg mit der Vision einer neuen, geeinten imperialistischen Weltordnung (er nannte sie Interimperialismus) trösten wollte, die den Frieden sichern könnte.

Ernest Mandel, führender Sprecher des pseudotrotzkistischen Vereinigten Sekretariats und unter bürgerlichen Akademikern Anwärter auf den Titel des führenden „marxistischen“ Theoretikers, hat sich als ein eher agnostischer Glaubensanhänger des Ultraimperialismus entpuppt, zumindest was Westeuropa betrifft. So wie Kautsky nichts Neues zu den frommen Wünschen des liberalen Hobson beigetragen hat, außer der neuen Vorsilbe „ultra-“ anstelle von „inter-“, so fügt Mandel nichts zu Kautsky hinzu, außer einer weiteren neuen Vorsilbe; diesmal ist es „Superimperialismus. Mandels Amerika und Europa enthält die folgenden Spekulationen über mögliche „superimperialistische“ kapitalistische vereinigte Staaten von Europa:

„Es ist offensichtlich, daß solch internationalisiertes Privateigentum nicht mehr wirksam im Rahmen des französischen, westdeutschen, italienischen Staates verteidigt werden kann. ‚Europäisches‘ Kapitaleigentum erfordert einen ‚europäischen‘ bürgerlichen Staat als adäquates Förderungs-, Garantie- und Verteidigungsinstrument. …

Aus all diesen Gründen müssen ‚europäische‘ Konzerne im Augenblick einer verschärften, verallgemeinerten Rezession in der EWG … zwingend die Forderung nach einer krisenverhütenden Anti-Rezessionspolitik auf EWG-Ebene stellen, d. h. die Neigung zeigen, die Entschlußkraft im Bereich dieses entscheidenden Sektors der Wirtschaftspolitik aus den Händen der nationalstaatlichen Regierungen in die der ‚überstaatlichen‘ EWG-Behörden zu verlegen.“27

Mandels Argumentation lautet wie folgt. Da die internationale wirtschaftliche und politische Integration im besten historischen Interesse des Kapitalismus liegt, ist sie also möglich. Das ist durchgeknallter Rationalismus! Es ist auch im besten historischen Interesse des Kapitalismus, die Produktion angesichts einer sinkenden Profitrate auszuweiten. Im allgemeinsten Sinne wäre es im besten historischen Interesse der Bourgeoisie, das Programm, das historisch mit dem revolutionären Marxismus verbunden ist, zu verwirklichen und damit die Unzufriedenheit der Arbeiterklasse und die Möglichkeit der proletarischen Revolution selbst zu beseitigen! Aber das kann sie nicht, und auch die verschiedenen nationalen Bourgeoisien können in der Epoche des imperialistischen Zerfalls ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen nicht zusammenführen.

Der Glaube, dass der Gemeinsame Markt zu einem bürgerlichen europäischen Staat führt, ist eine Utopie, die nur für EWG-Bürokraten, pazifistische Pollyannas28 und Revisionisten wie Mandel in Frage kommt, die sich von oberflächlichen Phänomenen täuschen lassen. Oberflächlich betrachtet scheint der Gemeinsame Markt auf eine stärkere politische Integration zuzusteuern, da auf dem ersten Gipfeltreffen der neuerdings neun Mitgliedstaaten im Oktober neue Vereinbarungen über die Rechts- und Steuerpolitik getroffen und eine „Europäische Union“ mit einem Parlament auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts zum Ziel erklärt wurden. Die realen materiellen Grundlagen für diese pompöse Illusion werden jedoch eher schwächer. Mandel geht davon aus, dass die Notwendigkeit, der US-amerikanischen Konkurrenz zu begegnen, die Tendenz zu supranationalen Unternehmen und zur Kapitalakkumulation verstärken würde, was wiederum eine politische Vereinigung erfordere. Er räumt jedoch ein, dass der Begriff „‚multinational corporation‘ (‚multinationale Gesellschaft‘)“29 irreführend ist, da viele von ihnen eindeutig unter der Kontrolle der ursprünglichen Familien in ihren Heimatländern bleiben (die zwanzig größten gehören alle zu dieser Kategorie). Für Mandel liegt eine echte „Verflechtung“30 des Kapitals vor, wenn zwei oder mehr Unternehmen über nationale Grenzen hinweg zu einem einzigen fusionieren, ohne dass eine der beiden Seiten eine beherrschende Stellung einnimmt. Doch gerade diese Fusionen, wie Dunlop-Pirelli und Fiat-Citroën, erweisen sich als besonders instabil. Unweigerlich erweist sich der eine oder andere „Partner“ als stärker, während der schwächere versucht, auf der Grundlage der ursprünglichen Gleichheit zu bestehen. So ist der Zusammenschluss von Dunlop und Pirelli, bei dem die beiden ursprünglichen Unternehmen das Management einvernehmlich übernommen haben, ins Wanken geraten, weil die Verluste von Pirelli die Gewinne von Dunlop zu überlagern drohen. Solche Fusionen werden zusammen mit dem Rest von Mandels Hirngespinst (er erwartete, dass die gemeinsame europäische Währung fortbestehen würde) beim ersten allgemeinen Abschwung zerbröckeln, wenn alle europäischen Kapitalisten zum Selbstschutz voreinander in ihre Nationalstaaten zurückeilen. So trägt Mandel lediglich dazu bei, pazifistische Illusionen unter den europäischen Arbeiterklassen zu verbreiten. Dies ist in der Tat eines der Ziele der Bürokraten des Gemeinsamen Marktes.

Für ein vereintes, sozialistisches Europa!

Der Gemeinsame Markt ist in keiner Weise fortschrittlich. Er ist ursprünglich das Produkt der Mobilisierung des US-Imperialismus gegen die Sowjetunion. Er ist eine Arena, in der die europäischen nationalen Bourgeoisien sich gegenseitig und den Rest der Welt über den Tisch ziehen. Er ist ein Vehikel für die kapitalistische Zusammenarbeit gegen die europäischen Arbeiterbewegungen, die hingegen wenig internationale Solidarität gezeigt haben.

Trotz der nationalen Spaltungen der Kapitalisten sind die zunehmende Verflechtung des Weltmarkts und die internationale Vergesellschaftung der Produktionsmittel real. Die größere Rationalität der großen, zentralisierten Produktions- und Vertriebseinheiten wird im Kapitalismus jedoch durch die noch größere Irrationalität des Wettbewerbs zwischen weltweiten, nur auf Profit ausgerichteten oligopolistischen Monstern wettgemacht. So ist die Einheit im Kapitalismus nicht nur ein Mythos, der beim ersten ernsthaften wirtschaftlichen Abschwung zerbrechen wird, sondern muss sich zwangsläufig gegen die Arbeiterklasse richten, da jede nationale Kapitalistenklasse versucht, durch eine Politik der „Rationalisierung“ „wettbewerbsfähig“ zu werden. Dies erfordert rigide Lohnstopps, massive Abwertungen, Streikbruch, die Liquidierung ganzer Industrien, Massenarbeitslosigkeit und Inflation. Es ist schwer, den organisierten Arbeitern eine solche Politik aufzunötigen, so dass die Bourgeoisie in den jeweiligen Ländern gezwungen ist, auf Mitte-Links- und sozialdemokratische Regierungen zurückzugreifen, um diese Politik umzusetzen. Solche entschieden arbeiterfeindlichen Regierungen waren in Großbritannien, Italien und jetzt in Deutschland an der Macht, und genau diese Rolle wird eine Volksfrontkoalition aus KP, SP und Radikaler Partei in Frankreich spielen, wenn sie gewählt wird.

Nur die Einheit auf sozialistischer Grundlage, die durch die proletarische Revolution und die Enteignung der Riesenmonopole erreicht wird, kann eine vernünftige weltweite wirtschaftliche Entwicklung ohne Ausbeutung einleiten. Ein sozialistisches vereinigtes Europa kann nur auf der Grundlage des energischsten Kampfes gegen den kapitalistischen Gemeinsamen Markt und alles, wofür er steht, geschaffen werden. Und nur unter der vereinten Kontrolle der Arbeiter selbst kann die Produktionskapazität Europas in den Dienst der gesamten arbeitenden Bevölkerung der Welt gestellt werden.


  1. Nr. 15, January 1973↩︎

  2. „Nieder mit der imperialistischen EU!“, 22. Mai 2019. Selbstverständlich gehören zur EU auch nicht-imperialistische kapitalistische Staaten wie Polen, Griechenland oder Ungarn, die in unterschiedlichem Ausmaß von den Imperialisten dominiert und ausgebeutet werden.↩︎

  3. Siehe „Das Schreckgespenst des ‚russischen Imperialismus‘“, Ergebnisse & Perspektiven, 11. September 2022.↩︎

  4. Siehe „China: Arbeiterkämpfe in der ‚sozialistischen Marktwirtschaft‘“, Ergebnisse & Perspektiven, November/Dezember 2021.↩︎

  5. Siehe „Deutsche Panzerdebatte: Welche Rolle spielen amerikanische Rüstungsinteressen?“, Neue Zürcher Zeitung, 22. Januar 2023.↩︎

  6. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, damaliger Name des Vorläufers der EU – E&P.↩︎

  7. Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Rom, 1957, S. 37.↩︎

  8. ebd.↩︎

  9. a.a.O., S. 42↩︎

  10. Zitiert in Ernst-Otto Czempiel und Carl-Christoph Schweitzer, Weltpolitik der USA nach 1945: Einführung und Dokumente, Leske Verlag & Budrich GmbH, Leverkusen, 1984 – E&P.↩︎

  11. Unsere Übersetzung aus dem Englischen – E&P.↩︎

  12. Entspricht mehr als 40 Milliarden in heutigen Dollar – E&P.↩︎

  13. Entspricht mehr als 130 Milliarden in heutigen Dollar – E&P.↩︎

  14. Siehe „American Empire Shaken“, WV Nr. 2, November 1971.↩︎

  15. Newsweek, 27. November 1971.↩︎

  16. Entspricht mehr als 6,5 Milliarden in heutigen Dollar – E&P.↩︎

  17. Entspricht mehr als 67 Milliarden in heutigen Dollar – E&P.↩︎

  18. Entspricht mehr als 300 Millarden in heutigen Dollar – E&P.↩︎

  19. Auch Montanunion genannt – E&P.↩︎

  20. Britischer Gewerkschaftsdachverband – E&P.↩︎

  21. Parlamentarische Taktik, als Minderheit durch langandauernde Reden oder deren Androhung eine Beschlussfassung zu verhindern – E&P.↩︎

  22. Nach Charles de Gaulle von 1969 bis 1974 französischer Präsident – E&P.↩︎

  23. „Le manœvre européenne de M. Pompidou,“ France Nouvelle, 28. März–3. April 1972↩︎

  24. Marx/Engels, Werke, Bd. 4, S. 473.↩︎

  25. ebd, S. 479.↩︎

  26. Siehe dazu Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, Abschnitt „3. Die Parole der Vereinigten Sowjetstaaten von Europa“, Arbeiterpresse Verlag, Essen, 1993, S. 30–37 – E&P.↩︎

  27. Ernest Mandel, Amerika und Europa – Widersprüche des Imperialismus, dt. Ausg. Rowohlt, Hamburg, 1982, S. 50 und S. 87.↩︎

  28. Eine Person, die ständig oder übermäßig optimistisch ist, nach der Hauptfigur in Pollyanna (1913), einem Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin Eleanor Porter (1868-1920) – E&P.↩︎

  29. a.a.O., S. 19.↩︎

  30. a.a.O., S. 34.↩︎

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