Ergebnisse & Perspektiven des Marxismus

Trotzkis Übergangsprogramm: Der Kampf gegen Imperialismus und Krieg

Das Folgende ist ein Abschnitt des Übergangsprogramms, das Leo Trotzki 1938 für die Gründung der Vierten Internationale als Weltpartei der sozialistischen Revolution verfasste.1 Eine kritische Darstellung der praktischen Anwendung dieses revolutionären Programms während des Zweiten Weltkriegs und Lehren für heute bietet der Artikel „Revolutionäre und der Zweite Weltkrieg: Britischer und US-Imperialismus und der Mythos vom ‚demokratischen‘ Krieg gegen den Faschismus“.2

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Die ganze Weltlage und demzufolge auch das innenpolitische Leben der einzelnen Länder stehen unter der Drohung des Weltkriegs. Die nahende Katastrophe erfüllt bereits einen großen Teil der Menschheit mit Angst. Die II. Internationale wiederholt ihre verräterische Politik von 1914 mit umso größerer Selbstgewißheit, als die Komintern heute die erste Geige des Chauvinismus spielt. Kaum hatte die Kriegsgefahr konkrete Formen angenommen, da wurden die Stalinisten, die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Pazifisten weit hinter sich lassend, zu den eifrigsten Verfechtern der sogenannten „Landesverteidigung“. Der revolutionäre Kampf gegen den Krieg ruht somit voll und ganz auf den Schultern der Vierten Internationale.

Die Politik der Bolschewiki-Leninisten in dieser Frage ist in den programmatischen Thesen des Internationalen Sekretariats niedergelegt, die auch heute noch ihre volle Gültigkeit bewahren.3 Der Erfolg der revolutionären Partei wird in der kommenden Periode vor allem von ihrer Politik in der Kriegsfrage abhängen. Eine richtige Politik besteht aus zwei Elementen: aus der Unversöhnlichkeit gegenüber dem Imperialismus und seinen Kriegen sowie aus der Fähigkeit, sich auf die Erfahrung der Massen selbst zu stützen.

In der Kriegsfrage betrügen die Bourgeoisie und ihre Handlanger schlimmer als in jeder anderen Frage das Volk mit Hilfe von Abstraktionen, allgemeinen Formeln und hohlen Phrasen: „Neutralität“, „kollektive Sicherheit“, „Rüstung zur Sicherung des Friedens“, „Landesverteidigung“, „Kampf gegen den Faschismus“ usw. Alle diese Formeln laufen letztlich darauf hinaus, die Kriegsfrage, das heißt das Schicksal der Völker, in den Händen der Imperialisten, ihrer Regierungen, ihrer Diplomaten, ihrer Generalstäbe mit all ihren Intrigen und Verschwörungen gegen die Völker zu belassen.

Die Vierte Internationale verwirft mit Abscheu all diese Abstraktionen, die bei den Demokraten die gleiche Rolle spielen wie bei den Faschisten „Ehre“, „Blut“, „Rasse“. Aber Abscheu genügt nicht. Man muß den Massen Kriterien, Losungen und Forderungen an die Hand geben, die ihnen helfen, den konkreten Inhalt der trügerischen Abstraktionen zu erkennen.

„Abrüstung“? Aber die ganze Frage ist, wer wen abrüstet. Die einzige Form der Abrüstung, die den Krieg verhindern oder beenden kann, ist die Entwaffnung der Bourgeoisie durch die Arbeiter. Aber um die Bourgeoisie zu entwaffnen, müssen sich die Arbeiter selbst bewaffnen.

„Neutralität“? Aber das Proletariat ist durchaus nicht neutral in einem Krieg zwischen Japan und China oder zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Bedeutet das also die Verteidigung Chinas oder der Sowjetunion? Selbstverständlich, aber nicht durch die Imperialisten, die China und die Sowjetunion erdrosseln würden.

„Verteidigung des Vaterlandes“? Aber unter dieser Abstraktion versteht die Bourgeoisie die Verteidigung ihrer Profite und Plünderungen. Wir sind bereit, das Vaterland gegen ausländische Kapitalisten zu verteidigen, wenn wir zuerst unseren eigenen Kapitalisten die Hände binden und sie daran hindern, über fremde Vaterländer herzufallen; wenn die Arbeiter und Bauern unseres Landes seine wirklichen Herren sind; wenn die Reichtümer des Landes von den Händen einer verschwindenden Minderheit in die Hände des Volkes übergehen; wenn die Armee aus dem Werkzeug der Ausbeuter zum Werkzeug der Ausgebeuteten wird.

Es gilt dem Lauf der Ereignisse und dem Bewußtseinsstand der Massen entsprechend diese Grundgedanken in einzelne, konkrete Gedanken zu übersetzen. Dabei muß man streng unterscheiden zwischen dem Pazifismus des Diplomaten, des Journalisten, des Professors und dem Pazifismus des Zimmermanns, des Landarbeiters und der Wäscherin. Im ersten Fall ist der Pazifismus der Deckmantel des Imperialismus; im zweiten der verworrene Ausdruck des Mißtrauens gegenüber dem Imperialismus.

Wenn ein Kleinbauer oder Arbeiter von der Verteidigung des Vaterlandes spricht, so meint er die Verteidigung seines Hauses, seiner Familie und anderer ähnlicher Familien gegen Überfälle, Bomben und Giftgase. Der Kapitalist und sein Journalist verstehen unter Verteidigung des Vaterlandes die Eroberung von Kolonien und Märkten, die Vergrößerung des „nationalen“ Anteils am Welteinkommen durch Raub. Der bürgerliche Pazifismus und Patriotismus sind nichts als Betrug. Im Pazifismus und selbst im Patriotismus der Unterdrückten sind Elemente enthalten, die zum einen den Haß auf den zerstörerischen Krieg, und zum anderen ihre Anhänglichkeit an das, was sie für ihre Habe halten, widerspiegeln und die man erfassen muß, um daraus die nötigen revolutionären Schlüsse zu ziehen. Man muß es verstehen, diese beiden Formen des Pazifismus und des Patriotismus feindlich einander gegenüberzustellen.

Ausgehend von diesen Überlegungen unterstützt die Vierte Internationale jede selbst unzureichende Forderung, die geeignet ist, auch nur zu einem geringen Grade die Massen in die aktive Politik hineinzuziehen, ihre Kritik zu wecken und ihre Kontrolle über die Machenschaften der Bourgeoisie zu verstärken.

Von diesen Überlegungen ausgehend hat zum Beispiel unsere amerikanische Sektion den Vorschlag, einen Volksentscheid über die Kriegserklärung herbeizuführen, kritisch unterstützt. Selbstverständlich kann keine demokratische Reform die Regierung daran hindern, einen Krieg vom Zaun zu brechen, wann sie will. Diese Warnung muß man offen aussprechen. Aber welchen Illusionen sich die Massen hinsichtlich des Volksentscheids auch hingeben mögen, diese Forderung widerspiegelt das Mißtrauen der Arbeiter und der Bauern gegenüber der bürgerlichen Regierung und dem Parlament. Ohne die Illusionen zu unterstützen oder zu schonen, heißt es aus allen Kräften das progressive Mißtrauen der Unterdrückten gegen die Unterdrücker zu fördern. Je breiter die Bewegung für den Volksentscheid werden wird, um so schneller werden die bürgerlichen Pazifisten von ihr abfallen, um so eindeutiger werden sich die Verräter der Komintern bloßgestellt sehen, um so lebhafter wird das Mißtrauen der Werktätigen gegen die Imperialisten.

Vom gleichen Gesichtspunkt aus muß man die Ausdehnung des Wahlrechts auf Männer und Frauen vom achtzehnten Lebensjahr an fordern. Wer morgen dazu aufgerufen wird, für das Vaterland zu sterben, soll das Recht haben, heute seine Stimme abzugeben. Der Kampf gegen den Krieg muß vor allem mit der revolutionären Mobilisierung der Jugend beginnen.

Das Problem des Krieges muß von allen Seiten beleuchtet werden, je nachdem, von welcher Seite es sich den Massen jeweils zeigt.

Der Krieg ist ein riesenhaftes Geschäft, vor allem für die Kriegsindustrie. Deshalb sind die „200 Familien“ die ersten Patrioten und die hauptsächlichen Kriegstreiber. Die Arbeiterkontrolle über die Kriegsindustrie ist der erste Schritt im Kampf gegen die „Fabrikanten“ des Krieges. Der Losung der Reformisten: „Besteuerung der Kriegsgewinne“ stellen wir die Losung entgegen: Beschlagnahme der Kriegsgewinne und Enteignung der für den Krieg produzierenden Betriebe. Wo, wie in Frankreich, die Kriegsindustrie bereits „nationalisiert“ ist, bewahrt die Losung der Arbeiterkontrolle ihre volle Geltung: das Proletariat traut dem Staat der Bourgeoisie ebensowenig wie dem einzelnen Bourgeois.

  • Keinen Mann, keinen Groschen für die bürgerliche Regierung!

  • Kein Aufrüstungsprogramm, sondern ein Programm gemeinnütziger Arbeiten!

  • Vollkommene Unabhängigkeit der Arbeiterorganisationen von militärischer und polizeilicher Kontrolle!

Dem raubgierigen und erbarmungslosen imperialistischen Klüngel, der hinter dem Rücken der Völker seine Intrigen spinnt, muß ein für allemal die Entscheidungsgewalt über das Schicksal der Völker entrissen werden. Dementsprechend fordern wir:

  • Vollständige Abschaffung der Geheimdiplomatie. Alle Verträge und Abkommen müssen jedem Arbeiter und Bauern zugänglich sein.

  • Militärische Ausbildung und Bewaffnung der Arbeiter und Bauern unter unmittelbarer Kontrolle der Arbeiter- und Bauernräte.

  • Schaffung von Militärschulen für die Ausbildung von Befehlshabern, die aus den Reihen der Arbeiterschaft kommen und von den Arbeiterorganisationen ausgewählt werden.

  • Ersetzung des stehenden, d.h. kasernierten Heeres durch eine untrennbar mit den Fabriken, Bergwerken, Bauernhöfen usw. verbundene Volksmiliz.

Der imperialistische Krieg ist die Fortsetzung und Verschärfung der Raubpolitik der Bourgeoisie. Der Kampf des Proletariats gegen den Krieg ist die Fortsetzung und Verschärfung seines Klassenkampfes. Der Ausbruch des Krieges verändert die Lage und teilweise die Methoden des Kampfes zwischen den Klassen, nicht aber sein Ziel und seine Grundrichtung.

Die imperialistische Bourgeoisie beherrscht die Welt. Deshalb wird der nächste Krieg seinem Grundcharakter nach ein imperialistischer Krieg sein. Der wesentliche Inhalt der Politik des internationalen Proletariats wird somit der Kampf gegen den Imperialismus und seinen Krieg sein. Der Grundsatz dieses Kampfes wird lauten: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ oder „Die Niederlage der eigenen (imperialistischen) Regierungen ist das kleinere Übel“.

Aber nicht alle Länder der Welt sind imperialistische Länder. Im Gegenteil, die meisten sind Opfer des Imperialismus. Einige koloniale oder halbkoloniale Länder werden ohne Zweifel den Krieg zu dem Versuch ausnützen, das Sklavenjoch abzuwerfen. Auf ihrer Seite wird der Krieg kein imperialistischer, sondern ein Befreiungskrieg sein. Die Pflicht des internationalen Proletariats wird es sein, den unterdrückten Ländern im Krieg gegen ihre Unterdrücker beizustehen. Diese Pflicht erstreckt sich auch auf die Sowjetunion oder jeden anderen Arbeiterstaat, der vor oder während des Krieges entstehen mag. Die Niederlage jeder imperialistischen Regierung im Kampf gegen einen Arbeiterstaat oder ein Kolonialland ist das kleinere Übel.

Die Arbeiter eines imperialistischen Landes können jedoch einem anti-imperialistischen Land nicht vermittels ihrer Regierung helfen, gleichgültig, welche diplomatischen und militärischen Beziehungen die beiden Länder gerade unterhalten. Wenn die beiden Regierungen ein zeitweiliges und dem Wesen der Sache gemäß unsicheres Bündnis geschlossen haben, bleibt das Proletariat des imperialistischen Landes weiterhin in Klassenopposition zu seiner Regierung und unterstützt seinen nichtimperialistischen „Bundesgenossen“ mit seinen eigenen Methoden, d.h. mit den Methoden des internationalen Klassenkampfes (Agitation für den Arbeiterstaat und das Kolonialland nicht nur gegen ihre Feinde, sondern auch gegen ihre heimtückischen Verbündeten; Boykott und Streik in bestimmten Fällen, Verzicht auf Streik und Boykott in anderen usw.).

Wenn das Proletariat ein Kolonialland oder die Sowjetunion im Krieg unterstützt, solidarisiert es sich nicht im mindesten mit der bürgerlichen Regierung des Koloniallandes oder mit der thermidorianischen Bürokratie in der Sowjetunion. Im Gegenteil, es wahrt sowohl der einen wie der anderen gegenüber seine völlige politische Unabhängigkeit. Indem das revolutionäre Proletariat einen gerechten und fortschrittlichen Krieg unterstützt, erobert es sich die Sympathien der Werktätigen der Kolonien und der Sowjetunion, festigt dort das Ansehen und den Einfluß der Vierten Internationale und kann um so besser zum Sturz der bürgerlichen Regierung im Kolonialland, der reaktionären Bürokratie in der Sowjetunion beitragen.

Zu Beginn des Krieges werden sich die Sektionen der Vierten Internationale unvermeidlich isoliert fühlen: jeder Krieg überrumpelt die Volksmassen und treibt sie dem Regierungsapparat in die Arme. Die Internationalisten werden gegen den Strom schwimmen müssen. Doch werden die Verwüstungen und Leiden, die schon in den ersten Monaten die blutigen Schrecken von 1914–18 weit übertreffen werden, bald ernüchternd wirken. Die Unzufriedenheit und Entrüstung der Massen werden sprunghaft ansteigen. Die Sektionen der Vierten Internationale werden an der Spitze der revolutionären Flutwelle stehen. Das Programm der Übergangsforderungen wird brennende Aktualität erlangen. Das Problem der Machteroberung durch das Proletariat wird sich in seiner vollen Tragweite auftun.

Bevor er die Menschheit völlig auszehrt oder in Blut ertränkt, verpestet der Kapitalismus die Weltatmosphäre mit den giftigen Dämpfen des Völker- und Rassenhasses. Der Antisemitismus ist heute eine der schlimmsten krampfartigen Äußerungen des kapitalistischen Todeskampfes.

Die unerbittliche Anprangerung der Wurzeln aller Rassenvorurteile, aller Abarten und Schattierungen des nationalen Hochmuts und des Chauvinismus, insbesondere des Antisemitismus, muß als wichtigste Erziehungsarbeit im Kampf gegen Imperialismus und Krieg in die tägliche Arbeit aller Sektionen der Vierten Internationale eingehen.

Unsere Hauptlosung bleibt: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!


  1. Der Text folgt bis auf wenige grammatikalische Korrekturen der Ausgabe im Arbeiterpresse-Verlag, Essen, 1997. Eine andere Übersetzung des Textes ist im Marxists Internet Archive zu finden.↩︎

  2. Übersetzung für Ergebnisse & Perspektiven, 9. Mai 2023.↩︎

  3. „Krieg und die Vierte Internationale“, Thesen des Internationalen Sekretariats vom 10. Juni 1934, in: Trotzki, Schriften, Bd. 3.3, Neuer ISP Verlag, Köln, 2001, S. 549ff.↩︎

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